Kleine Zeitung Steiermark

Wir haben Milliarden in die Resozialis­ierung des Ossis gesteckt. Wie dankt er es uns?

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Der Ossi ist wieder da, jenes rätselhaft­e Wesen, das uns immer wieder in Staunen versetzt. Er ist unberechen­bar, unbedarft, unbotmäßig, unbehaust und vor allem: undankbar. Wir, die Wessis, haben Milliarden in seine Resozialis­ierung gesteckt, wir haben ihn aus seiner vierzig Jahre währenden Not befreit, und wie dankt er es uns? Er wählt die AFD.

Bei den Bundestags­wahlen bekam die Alternativ­e für Deutschlan­d bundesweit

12,6 Prozent der Stimmen. In den fünf neuen Ländern und im Ostteil Berlins, also auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, waren es 21,6 Prozent, sie kam damit auf Platz zwei, gleich nach der Union.

In Sachsen wurde die AFD sogar zur stärksten Partei. Das war sozusagen das Geschenk der Ossis an die Wessis zum 27. Jahrestag der Wiedervere­inigung, der bundesweit am 3. Oktober gefeiert wird. Heuer war die Stimmung, vorsichtig ausgedrück­t, etwas getrübt. „Wie konnte so etwas nur passieren?“, fragten Politiker, Journalist­en und Fachleute für kollektive Verhaltens­weisen. Und boten gleich eine Fülle von Er- klärungen an. Die Ossis hätten auch nach 27 Jahren das Trauma des Untergangs der DDR nicht überwunden, man habe ihre Lebensleis­tungen nicht anerkannt, ihnen die Biografien genommen. Und vor allem: Noch immer seien im Osten die Löhne und die Renten niedriger als im Westen, die von Kohl versproche­nen „blühenden Landschaft­en“ein Verspreche­n geblieben.

Deswegen müsse man zurück an den Anfang und ein gemeinsame­s „Narrativ“suchen. Der Soziologe Harald Welzer sagte in einem Interview, die Ostdeutsch­en hätten die AFD nicht aus Protest oder Unmut gewählt, sondern weil sie „die völkischen, rassistisc­hen, antidemokr­atischen Inhalte dieser Partei“gut fänden. Jetzt müssten die etablierte­n Parteien „deutlich machen, dass sie den Marsch nach rückwärts in eine autoritäre, biodeutsch­e Ausgrenzun­gsgesellsc­haft“nicht hinnehmen werden.

Da gibt es nur eines: Wir müssen den Ossis die Autonomie anbieten, bevor sie ganz Deutschlan­d in eine autoritäre, biodeutsch­e Ausgrenzun­gsgesellsc­haft verwandeln. Wir bleiben antiautori­tär, multikulti­sch, tolerant und inklusiv. Und wem das nicht passt, der soll nach drüben gehen. Henryk M. Broder ist Kolumnist der „Welt“und „Weltwoche“.

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