Kleine Zeitung Kaernten

„Es war so, als hätten wir niemals existiert“

Vor 26 Jahren starben beim Genozid in Srebrenica 8000 Menschen. Selma Jahi´c überlebte und erzählt, wie Erinnerung­en sie bis heute retraumati­sieren.

- Von Daniela Bresˇ cˇ akovic´

Frau Jahic auf dem Bild (rechts) sind Sie mit Ihrer Mutter zu sehen. Aufgenomme­n in Srebrenica. Sie waren damals sechs, Ihre Mama 23 Jahre alt. Hinter Ihnen liegen Serbien und die „feindliche­n Truppen“, schrieben Sie auf Twitter. Es herrschte Krieg. Wie fühlen Sie sich, wenn Sie heute an diese Zeit zurückdenk­en?

SELMA JAHIC: Zwiegespal­ten. Einerseits ist es unglaublic­h, dass seitdem beinahe dreißig Jahre vergangen sind und anderersei­ts, wenn ich mir Häuser oder gar ganze Dörfer um Srebrenica und Bljecˇeva, wo ich herkomme, ansehe, merke ich: Es hat sich nichts verändert. Die tiefen Wunden sind zugewachse­n, aber nie richtig ausgeheilt.

Sie waren noch ein Kind, als die ersten Bomben über Srebrenica abgeworfen wurden. Sie haben miterlebt, wie ihr Großvater von der Familie separiert und verschlepp­t wurde. War mit Kriegsbegi­nn das Ende Ihrer Kindheit festgeschr­ieben?

Als Kinder hatten wir nie wirkliche Grenzen erlebt. Wir haben in Wäldern gespielt, hielten uns tagsüber die meiste Zeit draußen auf. Als der Krieg anfing, war Schluss damit. Der Radius wurde immer kleiner und in den Wald durften wir schon gar nicht. Immer wieder kam es vor, dass Menschen, vor allem Männer, dorthin verschlepp­t und ermordet wurden. Wir Kinder haben verstanden, dass Krieg herrschte, aber nicht, was das tatsächlic­h bedeutete. Die Tschetniks waren in unserer Fantasie Monster mit großen Hörnern und nicht der Nachbar oder Schulfreun­d der Eltern.

Was bedeutete es, ein Kind im Krieg zu sein?

Man lebt plötzlich in einer neuen Realität. Spielzeug bastelten wir uns aus Müll, eigene Kleidung besaßen wir nicht. Mein jüngerer Bruder und ich trugen, wie alle Kinder damals, zusammenge­flickte Stofffetze­n der Erwachsene­n. Die Schuhe wurden uns zu klein. Wir schnitten sie auf und machten aus Paketbände­rn der abgeworfen­en Hilfspaket­e Riemen und befestigte­n diese an den Seiten. In dieser Realität war kein Platz für Mär

chen. Meine Mutter hat uns die Dinge nie schöngered­et. Es gab kein Tabuthema. Jedes Mal, wenn sie sich nachts rausschlic­h, um nach Essen zu suchen, verabschie­dete sie sich so, als wäre es das letzte Mal, dass wir uns sehen.

Wie haben Sie Ihre Mutter in dieser Zeit erlebt?

Sie hatte Angst. Ständig. Ich erinnere mich an diesen einen Gesichtsau­sdruck, der von Furcht gezeichnet war. Sogar dann noch, als wir schon in Wien lebten. Sah sie einen Polizisten oder Mann in Uniform auf uns zukommen, zuckte sie zusammen. Und als junge Frau in Srebrenica war das noch viel schlimmer. Wir haben mitbekomme­n, dass gezielt jüngere Frauen und Mädchen deportiert wurden, und fanden heraus, dass serbische Soldaten sie in Konzentrat­ionslager steckten und dort mehrfach vergewalti­gten. Viele Frauen haben sich deshalb mit Dreck beschmiert und sich ein Kopftuch umgebunden, um ihr Gesicht zu verstecken. Auf diese Weise wollten sie unentdeckt bleiben, um bei den Soldaten nicht aufzufalle­n.

Ihr Vater lebte zu dieser Zeit bereits in Wien.

Mein Vater arbeitete in Belgrad. Als die Grenzen zu Bosnien dicht machten, floh er nach Österreich. Mehr als sechs Monate konnte er uns nicht erreichen, auch davor war es schwer, Kontakt zu halten. Er wusste nicht, wo und ob wir noch am Leben waren.

Als Srebrenica fiel, schafften Sie es in die UN-Schutzzone. Was passierte dort?

Wir waren über mehrere Dörfer geflohen, bis wir beim Schutzlage­r der UNO ankamen. Dort sahen wir UN-Soldaten, die serbischen Truppen den Weg praktisch frei machten. Sie separierte­n die Menschen und steckten sie in Busse, die in verschiede­ne Richtungen fuhren. Mein Opa wurde aus den Armen meiner Oma gerissen und verschlepp­t. Jahre später, 2007, fanden wir seine Überreste in zwei Massengräb­ern in der Nähe des Lagers.

Wie war das für Sie?

Als die Nachricht kam, war es so, als verliere man diesen Menschen zum zweiten Mal. Es mag irrsinnig klingen, aber solange nichts gefunden wird, trägt man die Hoffnung in sich, er würde irgendwo weiterlebe­n.

Heute jährt sich der Genozid von Srebrenica zum 26. Mal, vor einem Monat wurde Ex-General Ratko Mladic zu lebenslang­er Haft verurteilt. Ist das die langersehn­te Gerechtigk­eit?

Keineswegs. Solange es kein Gesetz gegen Genozidleu­gnung gibt und kein Umdenken in der Gesellscha­ft passiert, solange wird sich in Bosnien auch nichts ändern. Was bleibt, ist einzig und allein die Hoffnung.

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 ??  ?? Selma mit ihrer Mutter vor den Hügeln des serbischen Territoriu­ms in Srebrenica
Selma mit ihrer Mutter vor den Hügeln des serbischen Territoriu­ms in Srebrenica
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BARUKCˇ IC´ , PRIVAT, FALLY Auf der Opfergeden­kstätte in Potocari bei Srebrenica werden heute weitere 19 Opfer des Massakers vom Juli 1995 beigesetzt. Nach 1000 Personen wird weiterhin gesucht
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