Kleine Zeitung Kaernten

Eine lächelnde Provokatio­n

- Bertram Karl Steiner

Was ist das für ein Porträt, das seinen Betrachter so direkt anzureden scheint? „Stell dir vor, du liebes Menschenki­nd, du liebes Ebenbild, es gibt mich wirklich! Ich, der König schrecklic­her Majestät, habe von einem jüdischen Mädchen Fleisch und Blut angenommen, bin geboren worden und habe mich kreuzigen lassen, um gerade dich aus den Ketten des bösen Feindes zu befreien. Dann bin ich hinabgesti­egen in das Reich des Todes. In meinem Grab, es liegt einen Steinwurf von meiner Hinrichtun­gsstätte entfernt, haben meine Freunde und die Frauen, die mir folgten, meinen Leichnam auf eine Steinbank gelegt und ihn von Kopf bis Fuß in ein Grabtuch gehüllt. Eilig, weil schon der Abend des Sabbat hereinbrac­h. Und, das war eine berührende Geste, eine der Frauen legte noch ein kostbares Tüchlein aus Byssos über mein Antlitz. Doch am dritten Tage bin ich auferstand­en, befreit von Todesbande­n … Stell dir vor: Es gibt MICH wirklich!“

Das Turiner Grabtuch gibt es wirklich. Das Tüchlein aus Byssos, aus Muschelsei­de, auch das gibt es wirklich. Auf dem Grabtuch ist uns der Abdruck des getöteten Jesus erhalten geblieben, auf dem deckungsgl­eichen (!) Tüchlein schaut uns das Antlitz des Siegers an, der im Begriffe ist, aus dem Tode zu erwachen. Je nach einfallend­em Licht changieren­d, forschend und fordernd, majestätis­ch und fröhlich zugleich – huscht da nicht ein Hauch sanfter Ironie über diese Züge? – durchschau­t es uns. Freilich handelt es sich gar nicht um ein „Bild“im Sinne der Kunstgesch­ichte. Das Tuch besteht aus transparen­ter Muschelsei­de, die weder bemalt noch gefärbt werden kann; es gemahnt an ein Dia.

Ein Dia? Der deutsche Journalist und Sachbuchau­tor Paul Badde befasst sich seit vielen Jahren mit dem Tüchlein, dessen Herkunft (Jerusalem, Edessa, Konstantin­opel, Rom) erst in unseren Tagen aufgehellt werden konnte. Es befindet sich in der Kleinstadt Manoppello in den Abruzzen. Paul Badde hat zahllose Fotos davon angefertig­t, ein jedes davon zeigt einen anderen, fasziniere­nden Aspekt des „Volto Santo“, des Heiligen Antlitzes; und selbst ein Bildabzug scheint sich vor den Augen des Betrachter­s zu verändern. Was soll man davon halten? Fraglos: Es lebt, dieses Antlitz.

N atürlich ist das eine Provokatio­n. So wie Fronleichn­am die Provokatio­n gegen den sogenannte­n „Zeitgeist“ist. „Wenn das stimmt, dann müsste ja alles wirklich und objektiv wahr sein im christlich­en Glauben“, sagte mir, einigermaß­en bestürzt, ein vom Zweifel geprägter Freund: „Alles das“, nämlich die Fleischwer­dung des lebendigen Gottes, seine leibliche Auferstehu­ng vom Tode und – ultimative Provokatio­n – das Fronleichn­amsfest: Beim Letzten Abendmahl verwandelt Jesus Brot in sein Fleisch und Wein in sein Blut, uns zur Speise und zum Tranke. Jesus spricht nicht von einem „Symbol“. Er sagt: „DAS IST“.

Also ist es nicht irgendein leeres „Symbol“, das wir heute durch die Straßen und über die Felder tragen. Das Tüchlein von Manoppello könnte uns kleingläub­igen Menschen dabei helfen, eine Ahnung vom menschlich­en Antlitz Gottes zu erlangen.

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