Eine lächelnde Provokation
Was ist das für ein Porträt, das seinen Betrachter so direkt anzureden scheint? „Stell dir vor, du liebes Menschenkind, du liebes Ebenbild, es gibt mich wirklich! Ich, der König schrecklicher Majestät, habe von einem jüdischen Mädchen Fleisch und Blut angenommen, bin geboren worden und habe mich kreuzigen lassen, um gerade dich aus den Ketten des bösen Feindes zu befreien. Dann bin ich hinabgestiegen in das Reich des Todes. In meinem Grab, es liegt einen Steinwurf von meiner Hinrichtungsstätte entfernt, haben meine Freunde und die Frauen, die mir folgten, meinen Leichnam auf eine Steinbank gelegt und ihn von Kopf bis Fuß in ein Grabtuch gehüllt. Eilig, weil schon der Abend des Sabbat hereinbrach. Und, das war eine berührende Geste, eine der Frauen legte noch ein kostbares Tüchlein aus Byssos über mein Antlitz. Doch am dritten Tage bin ich auferstanden, befreit von Todesbanden … Stell dir vor: Es gibt MICH wirklich!“
Das Turiner Grabtuch gibt es wirklich. Das Tüchlein aus Byssos, aus Muschelseide, auch das gibt es wirklich. Auf dem Grabtuch ist uns der Abdruck des getöteten Jesus erhalten geblieben, auf dem deckungsgleichen (!) Tüchlein schaut uns das Antlitz des Siegers an, der im Begriffe ist, aus dem Tode zu erwachen. Je nach einfallendem Licht changierend, forschend und fordernd, majestätisch und fröhlich zugleich – huscht da nicht ein Hauch sanfter Ironie über diese Züge? – durchschaut es uns. Freilich handelt es sich gar nicht um ein „Bild“im Sinne der Kunstgeschichte. Das Tuch besteht aus transparenter Muschelseide, die weder bemalt noch gefärbt werden kann; es gemahnt an ein Dia.
Ein Dia? Der deutsche Journalist und Sachbuchautor Paul Badde befasst sich seit vielen Jahren mit dem Tüchlein, dessen Herkunft (Jerusalem, Edessa, Konstantinopel, Rom) erst in unseren Tagen aufgehellt werden konnte. Es befindet sich in der Kleinstadt Manoppello in den Abruzzen. Paul Badde hat zahllose Fotos davon angefertigt, ein jedes davon zeigt einen anderen, faszinierenden Aspekt des „Volto Santo“, des Heiligen Antlitzes; und selbst ein Bildabzug scheint sich vor den Augen des Betrachters zu verändern. Was soll man davon halten? Fraglos: Es lebt, dieses Antlitz.
N atürlich ist das eine Provokation. So wie Fronleichnam die Provokation gegen den sogenannten „Zeitgeist“ist. „Wenn das stimmt, dann müsste ja alles wirklich und objektiv wahr sein im christlichen Glauben“, sagte mir, einigermaßen bestürzt, ein vom Zweifel geprägter Freund: „Alles das“, nämlich die Fleischwerdung des lebendigen Gottes, seine leibliche Auferstehung vom Tode und – ultimative Provokation – das Fronleichnamsfest: Beim Letzten Abendmahl verwandelt Jesus Brot in sein Fleisch und Wein in sein Blut, uns zur Speise und zum Tranke. Jesus spricht nicht von einem „Symbol“. Er sagt: „DAS IST“.
Also ist es nicht irgendein leeres „Symbol“, das wir heute durch die Straßen und über die Felder tragen. Das Tüchlein von Manoppello könnte uns kleingläubigen Menschen dabei helfen, eine Ahnung vom menschlichen Antlitz Gottes zu erlangen.