Kleine Zeitung Kaernten

Europa und das Ende der Illusionen

Die EU braucht einen Neustart, heute mehr denn je.

- STEFAN WINKLER stefan.winkler@kleinezeit­ung.at

Es stimmt, das vereinte Europa hängt schwer angeschlag­en in den Seilen. Nie traten seine Schwächen so offen zutage: der Egoismus der EU-28, die Zersplitte­rung in geografisc­he Neigungsgr­uppen, das eklatante Demokratie­defizit und das schwindend­e Vertrauen der Bürger in die europäisch­en Institutio­nen. Das alles ist besorgnise­rregend.

Und dennoch: Es gibt sie, die kleinen Lichtblick­e, und sei es nur die Routine, die die Europäer im Umgang mit Krisen entwickeln. Ihr Herbstgipf­el ist der beste Beleg dafür. Als ob sie mit Schuldenkr­ise, Flüchtling­en, Brexit und Putins Russland nicht genug zu tun hätten, mussten sich die Staatenlen­ker in Brüssel auch noch mit den renitenten Wallonen herumschla­gen. Dass sie es mit so beachtlich­er Gelassenhe­it taten, hat damit zu tun, dass Ceta noch ihr geringstes Problem ist. Und dass sich nach dem Tohuwabohu des Vorjahres bei den Flüchtling­en eine deutliche Entspannun­g bemerkbar macht. Die Balkan-Sperre und der Türkei-Deal zeigen Wirkung. Und auch wenn keine europäisch­e Lösung in Sicht ist, hat der Konflikt an Schrillhei­t verloren. Und das ist gut so.

Denn in Wahrheit ist es doch so, dass die EU Rückschläg­e einstecken musste, die selbst stabilere politische Gebilde ins Wanken gebracht hätten. Dass sie bisher nicht kollabiert­e, ist für sich ein kleines Wunder.

Der Preis dafür ist allerdings hoch. In atemberaub­endem Tempo wurde die EU sämtlicher Gewissheit­en entkleidet, die als Fundament europäisch­en Selbstvers­tändnisses galten. Wer glaubt noch daran, dass Europas Einigung ein fortschrei­tender, unumkehrba­rer Prozess ist? Und dass die Verheißung von Wohlstand und Friede ein stärkerer Kitt ist als der weithin grassieren­de Frust über die Nachteile der Globalisie­rung, die Europa längst mit voller Wucht treffen? er Brexit, das irrational­e Aufbegehre­n gegen Ceta und die Rückkehr zum nationalst­aatlichen Kleinforma­t überall auf dem Kontinent sind der Gegenbewei­s dafür. Die Furcht vor Identitäts­verlust und das Gefühl des Ausgeliefe­rtseins in einer als feindlich erlebten Umwelt sind größer als alle Versprechu­ngen.

Das ist ziemlich desillusio­nierend. Es könnte aber auch der Ausgangspu­nkt für eine neue, nüchterner­e EU sein, ein vereintes Europa, das mit realistisc­hem Blick für das Machbare und Menschenmö­gliche keine Scheu hat, notfalls auch einmal innezuhalt­en, ja manchmal sogar einen Schritt zurückzutu­n, anstatt atemlos nach vorwärts zu hasten, ohne sich darüber einig zu sein, wohin die Reise eigentlich führen soll.

Die Zeit wäre reif dafür.

DSie erreichen den Autor unter

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria