Europa und das Ende der Illusionen
Die EU braucht einen Neustart, heute mehr denn je.
Es stimmt, das vereinte Europa hängt schwer angeschlagen in den Seilen. Nie traten seine Schwächen so offen zutage: der Egoismus der EU-28, die Zersplitterung in geografische Neigungsgruppen, das eklatante Demokratiedefizit und das schwindende Vertrauen der Bürger in die europäischen Institutionen. Das alles ist besorgniserregend.
Und dennoch: Es gibt sie, die kleinen Lichtblicke, und sei es nur die Routine, die die Europäer im Umgang mit Krisen entwickeln. Ihr Herbstgipfel ist der beste Beleg dafür. Als ob sie mit Schuldenkrise, Flüchtlingen, Brexit und Putins Russland nicht genug zu tun hätten, mussten sich die Staatenlenker in Brüssel auch noch mit den renitenten Wallonen herumschlagen. Dass sie es mit so beachtlicher Gelassenheit taten, hat damit zu tun, dass Ceta noch ihr geringstes Problem ist. Und dass sich nach dem Tohuwabohu des Vorjahres bei den Flüchtlingen eine deutliche Entspannung bemerkbar macht. Die Balkan-Sperre und der Türkei-Deal zeigen Wirkung. Und auch wenn keine europäische Lösung in Sicht ist, hat der Konflikt an Schrillheit verloren. Und das ist gut so.
Denn in Wahrheit ist es doch so, dass die EU Rückschläge einstecken musste, die selbst stabilere politische Gebilde ins Wanken gebracht hätten. Dass sie bisher nicht kollabierte, ist für sich ein kleines Wunder.
Der Preis dafür ist allerdings hoch. In atemberaubendem Tempo wurde die EU sämtlicher Gewissheiten entkleidet, die als Fundament europäischen Selbstverständnisses galten. Wer glaubt noch daran, dass Europas Einigung ein fortschreitender, unumkehrbarer Prozess ist? Und dass die Verheißung von Wohlstand und Friede ein stärkerer Kitt ist als der weithin grassierende Frust über die Nachteile der Globalisierung, die Europa längst mit voller Wucht treffen? er Brexit, das irrationale Aufbegehren gegen Ceta und die Rückkehr zum nationalstaatlichen Kleinformat überall auf dem Kontinent sind der Gegenbeweis dafür. Die Furcht vor Identitätsverlust und das Gefühl des Ausgeliefertseins in einer als feindlich erlebten Umwelt sind größer als alle Versprechungen.
Das ist ziemlich desillusionierend. Es könnte aber auch der Ausgangspunkt für eine neue, nüchternere EU sein, ein vereintes Europa, das mit realistischem Blick für das Machbare und Menschenmögliche keine Scheu hat, notfalls auch einmal innezuhalten, ja manchmal sogar einen Schritt zurückzutun, anstatt atemlos nach vorwärts zu hasten, ohne sich darüber einig zu sein, wohin die Reise eigentlich führen soll.
Die Zeit wäre reif dafür.
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