Büchner-Preis für einen Südtiroler
„Von den Steinen bis zu den Wolken“reichen die Gesamtkunstwerke des Lyrikers Oswald Egger, der auch Wahlwiener ist – und auf einer früheren Raketenstation werkt.
Der Büchnerpreis ist der renommierteste und zugleich am wenigsten populistische unter den großen Literaturpreisen im deutschsprachigen Raum. Clemens J. Setz, Emine Sevgi Özdamar und Lutz Seiler hießen die letzten Preisträger, alle durch Prosawerke einem breiteren Publikum bekannt (wenngleich Setz und Seiler auch Lyriker sind). Heuer geht der mit 50.000 Euro dotierte Preis an einen Autor, der fast ausschließlich als Lyriker hervorgetreten ist – dies beweist wieder einmal, dass die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung immer für Überraschungen gut ist.
Oswald Egger ist gebürtiger Südtiroler, die Landschaften seiner Heimat spielen auch eine große Rolle in seinem Werk. Der 61-Jährige ist aber auch Wahlwiener (hier hat er einst Literatur studiert). Heute ist er zudem auf einer ehemaligen Nato-Raketenstation stationiert: Im Kulturzentrum Hombroich bei Neuss nahe Düsseldorf hat er ein Atelier auf Lebenszeit.
Noch hat die Natur die Oberhand
Der Lyrikbegriff muss in Bezug auf Eggers Texte weit gefasst werden, nicht zufällig werden sie immer wieder als Gesamtkunstwerke bezeichnet. Ein Beispiel dafür ist der 2021 erschienene, mit Aquarellen des Autors versehene Band „Entweder ich habe die Fahrt am Mississippi nur geträumt, oder ich träume jetzt“. „Die Presse“nannte das Werk ein gewaltiges poetisches Ereignis“, in dem man „beinahe mit jeder Zeile neue Worte oder Wortgebilde kennenlernt“. Der titelgebende Fluss darin scheine „ein kollektives Bewusstsein zu speichern, das Bewusstsein eines ganzen Kontinents, einer zuvor nahezu unberührten Flora und Fauna, die durch die Einwirkung des Menschen zwar in ihren Grundfesten erschüttert ist, aber zumindest hier noch die Oberhand behält.“
Trotz Mississippi-Buchs sind es freilich die Südtiroler Gefilde, die Eggers Werk am meisten prägen (etwa in „Val di Non“, 2017). Der Mann mit drei Staatsbürgerschaften (italienisch, österreichisch, deutsch) lässt auch die Mehrsprachigkeit stark in sein Werk einfließen. Auch Disziplinen verbindet er gern: „Diskrete Stetigkeit“(2008) etwa widmet sich den Wechselwirkungen von Mathematik und Poesie, in „Die ganze Zeit“(2010) finden sich Prosatext, Vierzeiler und Zeichnungen über das Phänomen Zeit. Seine Texte sind oft dazu gemacht, nicht (nur) linear von vorn nach hinten, sondern auch kreuz und quer erkundet zu werden.
Literaturzeitschrift „Der Prokurist“
Seine Kindheit verbrachte Oswald Egger nahe Meran in Südtirol. Er wuchs in der Kleinstadt Lana auf, wo er in den Achtziger- und Neunzigerjahren, parallel zu seinen Literaturstudien in Wien, ein Kulturinitiator und -vernetzer wurde. So organisierte er unter anderem die von ihm mitbegründeten Kulturtage Lana und gab die von ihm gegründete Literaturzeitschrift „Der Prokurist“heraus.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich sein Wirkungskreis stark erweitert. Egger wurde für sein lyrisches Werk schon oft ausgezeichnet, u. a. mit dem Clemens-BrentanoPreis, dem H.C.-Artmann-Preis, dem GeorgTrakl-Preis und dem Ernst-Jandl-Preis. Seit 2011 hat er die Professur „Sprache und Gestalt“an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel inne. Im Kulturzentrum Hombroich, das die Stiftung Insel Hombroich auf dem ehemaligen Gelände einer Nato-Raketenstation hat errichten lassen, organisiert Egger die literarischen Aktivitäten.
Egger „arbeitet an einem Werkkontinuum, das Sprache als Bewegung, als Klang, als Textur, als Bild, als Performance begreift“– so formuliert es die deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in ihrer Preisbegründung. „Seine Prosagedichte und Textgewebe widersetzen sich der raschen Lektüre, laden zum assoziierenden Entschlüsseln von Bedeutungen ein und unterminieren spielerisch Erklärungssysteme, die wir zu kennen glauben.“Seine Texte seien geleitet von der sinnlichen Wahrnehmung, „im Gang über die Wortfelder der deutschen Sprache und ihrer Varietäten schreibt Oswald Egger die große Tradition einer Physiognomik der Naturformen fort, von den Steinen bis zu den Wolken“.
Bachmann, Böll, Canetti, Handke …
Der Büchnerpreis soll laut Statuten Autoren auszeichnen, die „durch ihre Arbeiten und Werke in besonderem Maße hervortreten“und „an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben“. Berühmte bisherige Preisträger waren zum Beispiel Ingeborg Bachmann, Max Frisch, Günter Grass, Heinrich Böll, Elias Canetti oder Peter Handke. Die diesjährige Entscheidung dürfte nicht zuletzt einen in den USA lebenden Germanisten freuen: Peter Gilgen schreibt gerade an einer Oswald-Egger-Biografie.