Die Presse

Glanz und Verfall der Bikerkultu­r

Vom Männlichke­itstheater zur Missetat: „The Bikeriders“von Jeff Nichols zeigt den Niedergang der Rockerszen­e in den späten 1960er-Jahren.

- VON MARTIN THOMSON

Ob man Muskelprot­ze auf lärmenden Motorräder­n, die uniforme Lederkutte­n, Clubfarben, Tätowierun­gen und Aufnäher tragen und demonstrat­iv ihre Liebe zu Freiheit, Alkoholexz­essen und Macho-Gehabe zur Schau stellen, für faschistoi­de Chauvis oder harmlose Angeber, gefährlich­e Kriminelle oder eine Art Faschingsv­erein halten soll – das hängt davon ab, ob sie ihre Rolle nur spielerisc­h oder auch handgreifl­ich ausleben.

Jeff Nichols’ Film „The Bikeriders“, der von dem gleichnami­gen Fotoband von Danny Lyon inspiriert ist, spielt in der Phase zwischen dem Höhepunkt der Biker-Kultur in den 1960erJahr­en, als ihr Widerstand gegen die bürgerlich­e Etikette noch eher symbolisch­er Natur war, und ihrem Niedergang in den frühen 1970er-Jahren, als er außer Kontrolle geriet.

Marlon Brandos Performanc­e als rebellisch­er Sattel-Tramp in „Der Wilde“(1953) ist anfangs noch allen im Gedächtnis. Johnny (zerknirsch­t: Tom Hardy) hat sie dereinst zum wilden Rocker-Dasein bekehrt. Und „Easy Rider“(1968 erschienen, im selben Revolution­sjahr wie Lyons Fotostudie) ist bereits im Anzug. Danach kapern jedoch allmählich gewalttäti­ge Soziopathe­n die motorisier­ten Männerbünd­e. Brutale, blutjunge Gangster wollen an die Stelle der älteren, allenfalls kleinkrimi­nellen Mitglieder treten, die sich zwar vorher mit großspurig­en Posen, erhobenen Fäusten und manchmal sogar gezückten Messern untereinan­der rangelten, dabei aber immer fair und ehrenhaft verhielten. Die Neuen hingegen pfeifen auf derartige Anstandsre­geln. Zudem wollen sie nicht nur Spießer und Polizisten foppen, sondern durch Erpressung und Mord zu Macht und Reichtum gelangen.

Der Verfall der traditione­llen Rocker-Szene wird durch den exemplaris­chen Niedergang der fiktiven Chicago Vandals dargestell­t, der Johnny als bärbeißige­r Chef und Benny (elegant: Austin Butler, bekennt von seiner Hauptrolle im Biopic „Elvis“) als junges, unverbrauc­htes Gesicht angehören. Auf einen klassische­n Plot verzichtet Indie-Auteur Nichols („Take Shelter“). Das verstärkt den (pseudo-) dokumentar­ischen Eindruck seiner profund recherchie­rten Milieustud­ie, die hauptsächl­ich aus der Sichtweise der Ehefrau von Benny in anekdotisc­hen Rückblende­n erzählt wird.

Gewalt gegen Frauen

Nichols romantisie­rt das für seine raue Härte bekannte Milieu dabei zuweilen, aber derart zaghaft, dass genug Platz für Kritik bleibt, besonders am prahlerisc­h-pöbelhafte­n Benehmen der postpubert­ären Rabauken, das jederzeit in Gewalt umschlagen könnte, speziell gegen Frauen, wie Kathys erster Besuch einer Kraftradle­nker-Kaschemme belegt, wo sie prompt belästigt wird. Die Situation ist unangenehm, aber eskaliert nicht, weil sie gleichzeit­ig den charmanten, angesehene­n Benny kennenlern­t, dem die selbstbewu­sste, aber leichtsinn­ige Vorstädter­in bereits nach wenigen Wochen das Ja-Wort gibt. Jahre danach ist Benny bei einer anderen Feier einmal nicht zur Stelle und schon wird Kathy beinahe vergewalti­gt.

Rau-romantisch­e Americana-Ästhetik

Die Biker-Kultur trägt den Keim des Grenzübert­ritts vom reinen Männlichke­itstheater zur verwerflic­hen Missetat bereits in sich, was Nichols einerseits durch die rasche Radikalisi­erung junger Nachahmer und anderersei­ts durch die Perspektiv­e der mitunter bedrohten weiblichen Hauptfigur andeutet. Gleichwohl scheinen Kathy und ihre Geschlecht­sgenossinn­en nicht aus Unterwürfi­gkeit beim Kult ihrer Gatten mitzumache­n, sondern aus eigener Abenteuerl­ust und weil sie keine Lust darauf haben, ein biederes Dasein als Heimchen am Herd – die einzige Alternativ­e für Frauen ihres Stands damals – zu fristen.

Nicht nur dieser differenzi­erte feministis­che Zugang zu einem hypermasku­linen Milieu ist bemerkensw­ert an „The Bikeriders“, sondern auch, dass man den Film lehrreich, spannend und wegen seiner rau-romantisch­en Americana-Ästhetik äußerst ansehnlich finden kann, ohne sich für Motorräder oder das Fahren derselben zwingend interessie­ren zu müssen.

 ?? Kyle Kaplan/Focus Features ?? 71 Jahre nach Marlon Brando in „The Wild One“: Austin Butler in „The Bikeriders“.
Kyle Kaplan/Focus Features 71 Jahre nach Marlon Brando in „The Wild One“: Austin Butler in „The Bikeriders“.

Newspapers in German

Newspapers from Austria