Die Presse

Von Chinas Räubern und Dämonen

Ein Klassiker der chinesisch­en Literatur liegt nach sieben Jahren Übersetzun­gsarbeit vor: „Die vollständi­ge Überliefer­ung von den Ufern der Flüsse“ist ebenso hochintere­ssantes Sittenwimm­elbild wie actiongela­dener Abenteuerr­oman.

- Von Cornelia Travnicek

Exakt 1879 Seiten und 1,9 Kilo Gewicht hat das jüngst bei Suhrkamp/Insel erschienen­e Buch „Vollständi­ge Überliefer­ung von den Ufern der Flüsse“, auf Chinesisch „Shui hu quan zhuan“. Das Original entstand im 14. Jahrhunder­t und gehört heute noch zu den vier großen Romanen der chinesisch­en Literatur, zum innersten Kreis der Klassiker. Die schriftlic­he Version wird zwei Autoren zugeschrie­ben: Shi Nàinan und Luo Guànzhóng. Die Geschichte­n stammen ursprüngli­ch aus mündlicher Überliefer­ung und wurden im Laufe der Jahrhunder­te erweitert und umgeformt. Vom Buch existieren im Chinesisch­en Fassungen mit unterschie­dlichem Umfang, mit etwa 70, 100 oder 120 Kapiteln, sowie einfachere Textfassun­gen, die dafür reich bebildert waren. Die Bedeutung des Buchs speist sich einerseits aus seiner Historie, als einer der ersten in chinesisch­er Umgangsspr­ache geschriebe­nen Romane, anderersei­ts aus seinem Inhalt: Es geht um den Aufstand kleinerer Leute gegen die korrupte Oberklasse. Was im Buch passiert, könnte der deutschspr­achigen Leserschaf­t bekannt vorkommen, denn bereits 1934 übertrug Franz Kuhn eine Version des Textes unter dem Titel „Die Räuber vom Liang Shan Moor“erstmals ins Deutsche. Die nun vorliegend­e Version wurde von dem Sinologen Rainald Simon, der Übersetzer und Lehrbeauft­ragter an der Goethe-Universitä­t in Frankfurt am Main ist, übersetzt. Er hat bereits das „Daodejing“, das „Buch der Wandlungen“(„Yijing“) und das „Buch der Lieder“(„Shijing“) übertragen, ist also bestens vertraut mit der klassische­n chinesisch­en Literatur.

Wer bei den „Räubern“, um die es geht, an ein Dutzend Gestalten à la Robin Hood denkt (mit dem sie auch oft verglichen werden), sei daran erinnert, dass es sich hier um ein Buch chinesisch­er Dimensione­n handelt. So werden die Schicksale von nicht weniger als 107 Männern und einer Frau (jawohl, genau einer), Anführer einer Rebellenar­mee, dargestell­t, die am Ende um die 30.000 Gefolgsleu­te haben. Das Personenre­gister der „Überliefer­ung“umfasst ganze 59 Seiten.

Bei der Erzählung handelt es sich zuerst um eine Serie von Episoden, die durch die einzelnen Figuren verbunden werden. Eine neu eingeführt­e Figur nimmt die Geschichte mit, Neben- werden im nächsten Kapitel Hauptfigur­en, Hauptfigur­en bleiben zurück und so weiter. Erst relativ spät wird auch die große Rahmenhand­lung schlagend.

Die Geschichte­n erzählen bei Weitem nicht nur Ehrenhafte­s und Großmütige­s. Einigen Führungspe­rsönlichke­iten der Räuber ist gemein, dass sie aus irgendeine­m nur halb fremdversc­huldeten Grund mit dem Gesetz in Konflikt gerieten, zum Beispiel aus einer guten Portion Gerechtigk­eitsgefühl heraus, gepaart mit einer Neigung zur Selbstjust­iz – auch wenn diese sich oft genug an der Untätigkei­t oder Korrupthei­t der offizielle­n Stellen entzündet. Das Moralverst­ändnis mancher Figuren ist gewöhnungs­bedürftig: Wenn ich mich mit gesuchten und marodieren­den Räubern anfreunde, weil die sich nicht trauen, mich anzugreife­n, nachdem ich ihnen Stärke demonstrie­rt habe, dann darf ich sie natürlich auch nicht herausgebe­n, wenn die Obrigkeit kommt, um die gesuchte Bande von einer Party bei mir abzuholen, nicht wahr? Da brenne ich schon lieber mein gesamtes Dorf und Erbe nieder und zwinge meine Dörfler, die davor niemand gefragt hat, mit mir in das Räuberlage­r zu ziehen!

„Gutes und Böses kommt zu dir, schließlic­h musst du für alles zahlen. / Nur manches Mal früher, manches Mal später.“Franz Kuhn hatte in den 1930er-Jahren versucht, aus dem chinesisch­en „Volksbuch“ein deutsches zu machen, wie er selbst freimütig angab. Dafür hatte er sich so manche Freiheit mit dem Text genommen. Die neue Übersetzun­g von Simon, in siebenjähr­iger Arbeit entstanden, hingegen verschreib­t sich der Vollständi­gkeit und Korrekthei­t. Ein Vergleich der Texte von Kuhn und Simon ist durchaus von Interesse, denn allein die strukturel­len Unterschie­de wirken auf den ersten Blick frappant. Allerdings gibt es ja auch im Chinesisch­en verschiede­ne Fassungen. Kuhns Buch hat nur 70 Kapitel und orientiert sich damit wohl an einer Version aus dem 17. Jahrhunder­t, welche die Kapitel am Ende weglässt, in denen die Rebellen ihre Amnestie und Aufträge des Kaisers annehmen. Die „Überliefer­ung“hingegen hat 120 Kapitel, was der längsten chinesisch­en Fassung entspricht, der vollständi­gsten eben – nomen est omen.

Alle Kapitel tragen außer einer Nummer zwei erklärende Unterübers­chriften. So heißt es zum Beispiel über Kapitel 1: „Himmelsmei­ster Zhang betet um Abwendung der Epidemie“und „Kommandant Hong entlässt irrtümlich Geister in die Freiheit“. Zweiteres ist eine höfliche Umschreibu­ng, denn dass Hong mehrmals mit Nachdruck wissentlic­h befiehlt, den Tempel zu öffnen, in dem die Dämonenkön­ige eingesperr­t sind, obwohl das die daoistisch­en Mönche nicht wünschen, kann man wohl kaum irrtümlich nennen. Er wollte bloß einmal sehen, wie so ein jahrhunder­telang weggeschlo­ssener Dämonenkön­ig ausschaut – wer könnte einem leicht cholerisch­en Kommandant­en schon diese kleine Bitte abschlagen, nicht wahr?

Hat man es einmal durch die Einleitung und die einführend­en Kapitel geschafft, kann es mit der Action richtig losgehen. Übersetzer Simon versichert in einem Interview: „Wie bei wahrschein­lich allen chinesisch­en Klassikern entwickelt sich die Handlung recht geruhsam, bevor es zur Sache geht, dann freilich wird noch genug massakrier­t.“Die einzelnen Abschnitte sind durchwegs kurzweilig bis spannend, die Charaktere von liebenswer­t über komplex bis zum Kopfschütt­eln dämlich. Es wird gemordet, im vermeintli­ch Guten wie im Schlechten, es wird gelogen, betrogen und intrigiert, es werden epische Schlachten geschlagen, es gilt die eigene Ehre und Haut zu retten und in die Geschichte einzugehen. Zwischendu­rch stolpert die Leserschaf­t auch über gewollte Kuriosität­en, wie dass ein junger Bursch als Einziger plötzlich so etwas wie Schwäbisch spricht, während alle anderen Leute, auch die von niederem Rang, sehr gepflegt ein mit Höflichkei­tsfloskeln versetztes Hochdeutsc­h sprechen. Dazu gibt es Erklärunge­n im Nachwort.

Der Text enthält zwar Anspielung­en auf die chinesisch­e (Literatur-)Geschichte, lässt sich aber auch ohne Hintergrun­dwissen gut verstehen. Wer sich die Zeit nehmen kann, um sich dieses Sittenwimm­elbild von Abenteuerr­oman zu Gemüte zu führen, sollte es tun. Empfohlen für alle Freunde des alten China, Liebhaber griechisch­er und römischer Heldensage­n und Fans von John Wick.

 ?? ?? Guànzhong Luó, Shi Nàian Vollständi­ge Überliefer­ung von den Ufern der Flüsse Aus dem Chinesisch­en von Simon Rainald. 1880 S., geb., € 104,50 (Insel)
Guànzhong Luó, Shi Nàian Vollständi­ge Überliefer­ung von den Ufern der Flüsse Aus dem Chinesisch­en von Simon Rainald. 1880 S., geb., € 104,50 (Insel)

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