Georgien, Rumänien und Co.: Das Spektakel der Ost-Teams
Favoritenschreck. Die vermeintlichen Außenseiter begehren auf – und sie kommen vorrangig aus dem ehemaligen Ostblock. Welche Mannschaften in Deutschland trotz klaren Marktwertgefälles wahre Jubelstürme auslösen.
Düsseldorf/Köln/Hamburg. Gar nicht viel hatte zur großen Überraschung gefehlt, als Georgien am Dienstag in eine neue Ära startete und das erste Spiel bei einem Fußball-Großereignis nach der Unabhängigkeit des Landes absolvierte. Bei der hochdramatischen 1:3-Niederlage gegen die Türkei fiel die Entscheidung zugunsten des Favoriten in der Nachspielzeit. Ihr dritter Treffer der Partie war den Türken erst gelungen, als die Georgier unmittelbar davor ihrerseits drei Ausgleichschancen vergeben hatten.
„Das bislang größte Spektakel der EM“, lautete im Anschluss eine
‘‘ Es war unglaublich, was die Leute uns gegeben haben. So etwas habe ich zum ersten Mal erlebt. Edward Iordănescu, Rumänien-Trainer
Schlagzeile. Es war jedenfalls ein Match, das sinnbildlich für das Spektakel steht, das manche Mannschaft aus dem (ehemaligen) Osten bei dieser Europameisterschaft abliefert. Auch Teams aus dem erweiterten Kreis der Titelfavoriten sind vor den vermeintlichen Underdogs nicht sicher.
Ukraine schlägt zurück
Das hat etwa die Slowakei bewiesen, als sie Belgien 1:0 besiegte und Kevin De Bruyne und Co. die erste Niederlage nach 14 ungeschlagenen Spielen zufügte. Torschütze Ivan Schranz jubelte völlig zu Recht über „eine hervorragende und disziplinierte Leistung“. Am Freitag in Düsseldorf setzte es gegen den geografischen Nachbarn Ukraine zwar eine 1:2-Niederlage (Tore durch Schranz/17. bzw. Mykola Shaparenko/54. und Roman Yaremchuk/80.), im Kampf um den Aufstieg in Gruppe E ist aber weiterhin alles möglich.
Auch für die Ukraine, die sich nach dem 0:3-Dämpfer gegen Rumänien eindrucksvoll zurückmeldete. Es war ein Sieg für die Fans in der kriegsgebeutelten Heimat. Apropos Fans: Jene von Rumänien brachten nicht wenige Akteure ihrer Mannschaft nach der Ukraine-Gala Anfang der Woche zum Weinen – in positiver Hinsicht. „Es war unglaublich, was die Leute uns gegeben haben. So etwas habe ich zum ersten Mal erlebt“, berichtete Trainer Edward Iordănescu. „Das ist ein historischer Sieg für Rumänien.“Es war der erste
Georgien - Tschechien 15 Uhr, ServusTV
bei einer EM seit 2000. Selbst 2008 in Österreich und der Schweiz, als das Team von Superstars wie Adrian Mutu oder Cristian Chivu angeführt und als heißer Außenseitertipp gehandelt wurde, reichte es zu keinem vollen Erfolg.
Namhafte Spieler im Kader sind inzwischen rar. Insgesamt ist das Aufgebot Rumäniens mit rund 92 Millionen Euro Marktwert das mit Abstand „billigste“unter den 24 Teams in Deutschland. Zum Vergleich: Spitzenreiter England verfügt über ein 1,52-Milliarden-Euro-Aufgebot, Österreich ist immerhin 237 Millionen wert. Überhaupt befindet sich nur ein Land (Ukraine), das dem Gebiet des ehemaligen Ostblocks zugeordnet werden kann, in den Marktwert-Top-Ten der EM. Neben Rumänien sind sowohl Albanien (zählte zeitweise zum Ostblock), die Slowakei, Georgien, Ungarn, Tschechien als auch Polen im unteren Drittel zu finden.
Neue Helden
Gerade aus rumänischer Sicht bietet sich nun, vor dem heutigen Duell mit Belgien in Köln (21 Uhr, live, Servus TV, ZDF), eine Chance. Nicht nur Coach Iordănescu kann mit einem vorzeitigen Aufstieg in die K.o.-Phase, dem ersten bei einem großen Turnier seit 24 Jahren, aus dem Schatten seines Übervaters treten. Anghel Iordănescu gilt in seiner Heimat als Trainerlichtgestalt – eine Rolle wie sie Gheorghe Hagi als Spieler verkörpert. Das Land schreit nach neuen Helden.
Belgien - Rumänien 21 Uhr, ServusTV
Zu Nationalhelden wurden die Kicker Georgiens schon mit ihrer erfolgreichen EM-Qualifikation. „Das war der vielleicht größte Triumph für unsere Nation und unsere Menschen, seit wir vor 30 Jahren ein unabhängiges Land wurden“, sagte Mittelfeldspieler Nika Kwekweskiri. Nachsatz: „Es war Wahnsinn auf den Straßen.“
Die Begeisterung setzte sich bei der EM fort. Es ist spürbar, dass es rund um die Auswahl von Willy Sagnol um mehr als Fußball geht. Politisch erlebt Georgien aktuell schwierige Zeiten, ist de facto in zwei Lager geteilt: eines, das sich Russland und eines, das sich Europa nahe fühlt. Heute (15 Uhr, live, Servus TV, RTL) wird sich die Bevölkerung im Sog ihrer Mannschaft wieder kurzzeitig vereinen. Sportlich geht es in Hamburg gegen Tschechien um die Wahrung der Chance auf das Achtelfinale. Also gegen jenes Team, das als weiterer Vertreter des europäischen Ostens in seinem spektakulären Auftaktspiel nur knapp an einem Punktegewinn gegen Portugal (1:2) vorbeigeschrammt ist.
Im Osten wird (wieder) mit Mut, Leidenschaft, taktischer Disziplin und technischem Vermögen gespielt. Biederer, rein körperbetonter Fußball und Abwehrschlachten waren gestern.