Ein kleiner Klimaprotest mit großer Wirkung
Österreich droht in Straßburg eine ähnliche Verurteilung wie die Schweiz sie erlebte. Dem VfGH fehlt dafür die Kompetenz. Der EU-Gerichtshof könnte aber folgen.
Wien. Anfang April hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) seine ersten Urteile zu „Klimaklagen“gefällt. Von den drei Beschwerden, über die er abgesprochen hat, war zwar nur eine erfolgreich. In dem Urteil, mit dem einer Beschwerde gegen die Schweiz stattgegeben wurde, hat der Gerichtshof aber aus dem Recht auf Achtung des Privatlebens (Art 8 EMRK) ein Grundrecht auf Klimaschutz und ein auf dessen Geltendmachung gerichtetes Beschwerderecht für Umweltorganisationen abgeleitet.
Das Urteil ist naturgemäß nicht nur auf Zustimmung gestoßen. So hat etwa der von mir geschätzte Alexander Somek an dieser Stelle bereits seinen Unmut über die Entscheidung geäußert (15. April). Zu seiner Kritik sei jedoch angemerkt, dass man mit Urteilen aus Straßburg fast zwangsläufig unzufrieden sein muss, wenn man sie am Maßstab der Kelsenschen Reinen Rechtslehre beurteilt. Denn der Gerichtshof versteht die Konvention als ein „living instrument“und legt sie dynamisch und evolutiv aus – das mag missfallen, ist aber nichts Neues und schon gar nicht auf das Klima-Urteil zur Schweiz beschränkt.
Pflicht zu Klimaneutralität
Inhaltlich war der Ausgang des Verfahrens für mich zunächst überraschend; nüchtern betrachtet war er das aber eigentlich gar nicht. Der EGMR hat bloß jenen Weg beschritten, den zuvor bereits Gerichte in den Niederlanden, in Deutschland und in Frankreich eingeschlagen hatten: Dass nämlich aus Art 8 EMRK und/oder Umweltschutzbestimmungen der nationalen Verfassungen eine Pflicht der Staaten besteht, bis 2050 Klimaneutralität herzustellen. Das Verdienst des EGMR ist, dass er versucht hat, die daraus resultierenden positiven staatlichen Pflichten durch konkrete Kriterien zu präzisieren. Für eine Schwäche der Entscheidung halte ich allerdings, dass sie trotz ihres beachtlichen Umfangs nicht klar erkennen lässt, wo genau die Grenze zwischen der Wahrung des zulässigen Ermessensspielraums und einer Verletzung von klimabezogenen Schutzpflichten verläuft.
Von Interesse ist nun vor allem, welche rechtlichen Folgen das KlimaUrteil hat. Zu seiner Befolgung ist primär die Schweiz verpflichtet. Das sollte – zumindest was den nationalen Rechtsrahmen betrifft – nicht allzu schwierig sein: Der Gerichtshof kritisierte am eidgenössischen Klimaschutzrecht, dass dieses für den Zeitraum 2024 bis 2031 keine konkreten Vorgaben für die Treibhausgasreduktion vorsieht. Dieser Mangel wird sich relativ rasch beheben lassen. Gleiches gilt für die vom EGMR aber geforderten sektoralen Treibhausgasbudgets, sah doch das eidgenössische CO2-Gesetz solche für die Zeit vor 2020 bereits vor. Bleibt das vom EGMR festgestellte Manko, dass die Schweiz in der Vergangenheit ihre selbst gesetzten Klimaziele nicht eingehalten hat. An sich hätte der Schweizer Treibhausgasausstoß bis 2020 um 20% gegenüber 1990 reduziert werden müssen. Tatsächlich wurde er nur um rund 19% verringert. Mehrere Staaten haben ihre Klimaziele weitaus deutlicher verfehlt. Wenn der EGMR nun verlangt, dass gesetzlich determinierte Klimaziele nicht bloß als politische Absichtserklärungen anzusehen sind, sondern tatsächlich ernst genommen und eingehalten werden müssen, ist dies uneingeschränkt zu begrüßen.
Was bedeutet das Klima-Urteil für Österreich? Schon vor der EGMR-Entscheidung wurde im Schrifttum die Ansicht vertreten, dass Österreich infolge seiner seit Jahrzehnten unzureichenden Klimapolitik positive grundrechtliche Schutzpflichten verletzt. Misst man das heimische Klimaschutzrecht an den Kriterien des EGMR, ist das Ergebnis eindeutig. Selbst Wirtschaftsanwälte, die nicht im Verdacht stehen, besondere Sympathisanten der Klimabewegung zu sein, gehen infolge des Fehlens eines verbindlichen nationalen Reduktionspfads für Treibhausgase davon aus, dass Österreich in materieller Hinsicht die Konvention verletzt.
Ob der EGMR Österreich in einem bereits anhängigen Beschwerdeverfahren verurteilen wird, hängt hauptsächlich von der Frage ab, ob er dem Beschwerdeführer Opfereigenschaft im Sinn des Art 34 EMRK zuerkennt. Im Klima-Urteil gegen die Schweiz wurden die vier individuellen Antragstellerinnen als nicht aktivlegitimiert angesehen, sehr wohl aber der Verein Klimaseniorinnen. Die „Klimaklage“gegen Österreich wurde ausschließlich von einer natürlichen Person eingebracht.
Der Beschwerdeführer macht geltend, dass er an multipler Sklerose erkrankt ist und sich seine Symptome durch die Hitze wesentlich verschlimmern. Daher sei er – wie im Klima-Urteil für die Opfereigenschaft natürlicher Personen gefordert – durch die Auswirkungen des Klimawandels mit hoher Intensität belastet und habe ein dringendes Bedürfnis nach individuellem Schutz. Folgt der Gerichtshof dieser Argumentation und bejaht die Beschwerdelegitimation, ist eine Verurteilung Österreichs meines Erachtens wegen Art 8 unausweichlich.
Im nationalen Rechtsschutz ist ein Erfolg von Klimaklagen trotz des EGMR-Urteils weiterhin nicht zu erwarten. Dass Klimaklagen in Österreich bislang scheiterten, ist die Folge der Befugnisse des Verfassungsgerichtshofs (VfGH). Diese sehen nicht vor, dass der VfGH die Untätigkeit des Gesetzgebers sanktionieren kann. Unterlässt es der Gesetzgeber auch weiterhin, einen konventionskonformen Klimaschutzrechtsrahmen zu beschließen, kann dies vor dem VfGH nicht wirksam bekämpft werden.
Kein Zurück in EU-Politik
Indes kann das Klima-Urteil auf einer anderen Ebene Wirkung entfalten – auf jener des Unionsrechts. Der European Green Deal, der vorsieht, dass die 27 EU-Staaten bis 2050 klimaneutral werden und in einem ersten Schritt ihre Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55% gegenüber 1990 senken müssen, wurde im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament von mehreren Parteien infrage gestellt. Eine Aufweichung dieser Politik ist nach dem Klima-Urteil des EGMR meines Erachtens aber kaum mehr möglich. Denn der Gerichtshof der EU (EuGH) orientiert sich in seiner Rechtsprechung zu Grundrechtsfragen eng an der Judikatur des EGMR. Es ist daher davon auszugehen, dass der EuGH ein Abgehen vom Ziel der Klimaneutralität bis 2050 als nicht mit der Grundrechtecharta vereinbar ansehen würde.
Auch einzelne Bausteine der EUKlimapolitik – Stichwort Ende des Verbrennungsmotors ab 2035 – dürfen wohl nur noch dann aufgegeben werden, wenn das dadurch nicht verwirklichte Treibhausgas-Reduktionspotenzial durch andere Maßnahmen -in gleichem Ausmaß wieder eingespart wird. Es ist dies die kuriose Nebenwirkung des Klima-Urteils: Dass ein anfangs allgemein belächelter Klimaprotest von Seniorinnen aus dem Nicht-EU-Land Schweiz erreicht hat, dass die zuletzt infrage gestellte Klimapolitik der Union nun wesentlich vor einer Aufweichung geschützt ist.