Pogačars rosaroter Gipfelsturm
Tadej Pogačar ist nicht zu bremsen. Weder beim Giro d’Italia noch bei der Tour de France – und auch nicht, wenn sich heuer die Chance auf ein historisches Triple eröffnet.
Gut möglich, dass Tadej Pogačar diesen Giro d’Italia, seinen ersten überhaupt, am Sonntag vor dem Kolosseum nicht nur mit dem Rosa Trikot, sondern mit gleich sechs Etappensiegen beenden wird. Fünf hat er bereits eingefahren, und heute (11.35 Uhr, live, Eurosport) geht es schließlich noch einmal ins Gebirge, nach Bassano del Grappa (184 km, 4200 Höhenmeter), eine Gelegenheit, bei der er kaum wird widerstehen können.
Anstatt es nach den ersten Antritten, die ihm früh einen komfortablen Vorsprung in der Gesamtwertung eingebracht haben, ruhig angehen zu lassen, um sich für die Tour de France in fünf Wochen zu schonen – Pogačar will als erster Profi seit Marco Pantani das GrandTour-Double schaffen –, ging immer wieder der Rennfahrer mit ihm durch. Bot sich eine Chance auf einen Etappensieg, schlug er eiskalt zu. Ein Umstand, der die UAE-Teamchefs in Angst und Schrecken versetzt, schließlich scheint es, als gehe der 25-Jährige geradezu verschwenderisch mit seinen Kräften um. Gleich zu Beginn des Giros etwa tauchte er in Turin in einer Fluchtgruppe auf, dann in Neapel plötzlich vorn im Massensprint, weil er einen Teamkollegen in Position bringen wollte. Der Giro-Star steht für Spektakel auf jeder Etappe, aber für Langeweile im Gesamtklassement.
Einmalige Gelegenheit
Diese Dominanz bei der ItalienRundfahrt, Pogačar fährt seit dem zweiten Tag in der Maglia Rosa, ist auch der überschaubaren Konkurrenz geschuldet. Und doch: Die Pogačar-Show zwischen Toskana, Gran Sasso und Gardasee lässt schon manchen Beobachter von einem noch nie da gewesenen Triple fabulieren. Giro d’Italia , Tour de France und Vuelta a España in einer Saison gewinnen? Geht das überhaupt?
Die Antwort muss wohl lauten: Warum eigentlich nicht? Der USAmerikaner Sepp Kuss fuhr im Vorjahr beim Triple seines Jumbo-VismaTeams alle drei großen Rundfahrten, Giro und Tour beendete er als Edelhelfer nur knapp außerhalb der Top Ten, im Anschluss gewann er die Vuelta. Hinter Pogačars Konkurrenz steht außerdem ein Fragezeichen: Der Grand Départ am 29. Juni könnte für Tour-de-France-Titelverteidiger Jonas Vingegaard zu früh kommen, um nach seinem Horrorsturz hundertprozentig fit am Start zu stehen. Und Primož Roglič und Remco Evenepoel, die ebenfalls stürzten, dürfte Pogačar in seiner aktuellen Form im Griff haben, auch dank seiner höher einzuschätzenden Helfer. Eine einmalige Chance also, die sich heuer und danach wohl so schnell nicht wieder bietet. Vingegaard und Co. werden sich früher oder später wieder topfit zurückmelden, schon bald könnte auch das nächste Radsport-Supertalent auftauchen und Pogačar gefährden.
Der Slowene selbst hat zu Saisonbeginn etwaige Gedanken an das Grand-Tour-Triple zurückgewiesen, doch da waren seine härtesten Rivalen noch nicht gestürzt, und gänzlich ausschließen wollte er einen solchen Coup schon damals nicht. Im Fall seines Siegs auch bei der Tour würden die Vuelta-Organisatoren mit allen Mitteln um ihn werben, schon beim Giro soll der Überflieger eine stolze Antrittsgage kassieren. Das Kalkül: Pogačar soll beweisen, dass Siege bei mehreren Rundfahrten möglich sind und so wieder mehr Topstars nach Italien locken.
Doch selbst das Double aus Giro und Tour wäre bemerkenswert, es gelang zuletzt Marco Pantani 1998 inmitten der Epo-Ära. Niemand kam seither in die Nähe, nicht Contador, nicht Nibali, auch nicht Chris Froome, der 2018 den Giro gewann und die Tour als Dritter beendete.
Klar sein sollte nach diesem Giro dennoch: Dieser Pogačar, der immer noch das Tempo vorgibt, obwohl er längst nicht mehr müsste, würde auch bei der historischen TripleChance kaum zu bremsen sein.