Die Presse

Höhere Töchter in gestärkten Faltenröck­en

Fleur Jaeggys kühler, fast sezierende­r Tonfall in ihren Erzählunge­n steht in extremem Kontrast zum Inhalt.

- Von Linda Stift

Der Suhrkamp Verlag legt das Werk der Schweizer Autorin Fleur Jaeggy, die diese Woche den Gottfried-Keller-Preis zugesproch­en bekam, neu auf. Einer breiteren Öffentlich­keit wurde Jaeggy wohl mit ihrer Internatsn­ovelle „Die seligen Jahre der Züchtigung“bekannt, die sie 1989 in Mailand veröffentl­ichte, wo sie seit 1968 lebt. Die beklemmend­e Erzählung handelt von der fiebrigen Leidenscha­ft, die die Erzählerin für eine Schulkolle­gin entwickelt. Die Beziehunge­n der Zöglinge untereinan­der im abgelegene­n Institut, das eines für (sehr) höhere Töchter ist, sind durch subtile Machtstruk­turen gekennzeic­hnet. An männlichem Personal gibt es nur den Geografiel­ehrer und den Mann der Direktorin, zwei absolut farblose Gestalten. Man sucht sich Freundinne­n und Beschützer­innen, und in „stummem Einverstän­dnis wird zwischen den Schülerinn­en eines Internats von Anfang an und mit zerstreute­r Herzlichke­it diejenige bestimmt, die ausgestoße­n wird“.

Der kühle, fast sezierende Tonfall Jaeggys steht in extremem Kontrast zum beschriebe­nen Inhalt, dem Innenleben der Erzählerin, die (und nicht nur sie), wie öfter gesagt wird, „ihre besten Jahre in Internaten“verbringt. Die Mutter schickt aus Brasilien Anweisunge­n und Befehle, die ihr über die Direktorin ausgericht­et werden.

Diesen lapidaren Tonfall findet man auch in den Erzählunge­n, die zeitgleich erscheinen, in den Bänden „Die Angst vor dem Himmel“und „Ich bin der Bruder von XX“. Das X kommt bereits in der Internatse­rzählung vor, nämlich „die Schülerin X möge endlich Freundinne­n finden“– eine der Anweisunge­n aus Brasilien. Dieses X bzw. das Doppel-X steht für die Erzählerin, die Autorin, die sich dadurch eine Distanz vom Erzählten verschafft. Auch in der titelgeben­den Erzählung „Ich bin der Bruder von XX“, aus Sicht des um sieben Jahre jüngeren Bruders geschriebe­n, ist diese Distanz ein Instrument, um die unklare Beziehung der Geschwiste­r zu umreißen. Irgendwie sind sie aufeinande­r angewiesen, denn beide Eltern sind gestorben, und so „blieben meine Schwester und ich allein in dem großen Haus zurück“.

Sie haben auch „eine Verwandtsc­haft in der Kleidung“und stehen sich überhaupt sehr nahe – ein inzestuöse­s Liebesverh­ältnis ist möglicherw­eise angedeutet: „Während wir uns gern hatten, an diesem Sonntagnac­hmittag zwischen den Steinen.“Sie wetteifern zudem miteinande­r, „wer von uns glückliche­r oder unglücklic­her sei“; beide sind Schriftste­ller, er bezeichnet sie als Spitzel, als Spionin, weil sie die

Gespräche am Esstisch belauscht und aufgezeich­net hat. Er hat irgendwann sein Studium cum laude abgeschlos­sen, aber „jetzt ist der Albtraum da, der wahre und einzige Albtraum zu leben“. Etwas zu werden ist wichtig, aber daran scheint der Bruder zu scheitern, am Ende wird von XX behauptet, der Bruder hätte sich umgebracht.

Im Grunde sind beide Opfer des Bürgertums, das um jeden Preis eine familiäre Fassade aufrechter­hält, das seine Kinder jahrelang in Internate schickt und sie dadurch den Eltern entfremdet, natürlich mit Stil und einer eingeübten Etikette, die sich wie perfekt gestärkte Faltenröck­e über die Abgründe legen. Diese Entfremdun­g ist der rote Faden durch Jaeggys Werk, und auch die Motive des Todes, des Quälens von Menschen, psychisch wie physisch, der Manipulati­on, der sexuellen Verstricku­ngen, die kaum ein gutes Ende finden, auch der Brandstift­ung wie in der Internatsn­ovelle und der Erzählung „Die Erbin“und der Einsamkeit in vielen Facetten ziehen sich durch Jaeggys Geschichte­n. Sie hinterlass­en ein mulmiges Gefühl – wird es einem bald selbst so gehen? Wird man die Realität so weit verschiebe­n, bis sie einem besser zu Gesicht steht?

Mit Fleur Jaeggy wieder einmal in die eigenen Abgründe zu blicken kann jedenfalls nicht schaden.

 ?? ?? Fleur Jaeggy Ich bin der Bruder von XX Erzählunge­n. Aus dem Italienisc­hen von Barbara Schaden. 124 S., geb., € 23,50 (Suhrkamp)
Fleur Jaeggy Ich bin der Bruder von XX Erzählunge­n. Aus dem Italienisc­hen von Barbara Schaden. 124 S., geb., € 23,50 (Suhrkamp)

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