Der Rechtsstaat ist so gut, wie wir ihn wollen
Immer wieder hört man, dass der Rechtsstaat die nächste Nationalratswahl nicht überleben könnte. Doch man darf unsere demokratischen Institutionen nicht im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung kaputtreden.
Warum maße ich mir an, zum Zustand der Rechtsstaatlichkeit nicht nur eine Meinung zu haben, sondern diese auch öffentlich kundzutun? Wie kein anderes Rechtsgebiet dringt mein Betätigungsfeld, das Strafrecht, in unsere Lebenssphären ein; es kann Menschen ihre persönliche Freiheit nehmen und sie als „kriminell“brandmarken. Es sind Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger, die als Speerspitze der Advokatur, der Demokratie und des Rechtsstaates für Betroffene Rechtsstaatlichkeit einfordern.
Rechtsstaat – ist das nicht mehr als eine Worthülse? Auch wenn es etwas trocken ist, eingangs eine begriffliche Klarstellung: Der Rechtsstaat ist ein demokratisch legitimierter Staat, der einerseits allgemein verbindliches Recht schafft und andererseits seine Organe bei der Ausübung der staatlichen Gewalt an das Recht bindet. Diese unverzichtbare Bindung an die Gesetze stellen insbesondere die Gerichte sicher.
Rechtsstaat heißt aber nicht, dass alles immer zu 100 Prozent passt. Als Verteidiger kann ich bestätigen: In Österreich funktioniert er – grundsätzlich. Nehmen wir die Handysicherstellung als Beispiel. Das Handy ist als Beweismittel ein Dorado der Strafverfolgungsbehörden: Wie ein Logbuch protokolliert es, was sein Nutzer tut oder unterlässt. Die Auswertung der gespeicherten Daten erlaubt es sogar, künftiges Verhalten vorherzusagen und Rückschlüsse auf die Gesinnung zu ziehen. Zur Rechtspraxis muss man pointiert festhalten, dass die Sicherstellung eines Handys praktisch immer zulässig ist, die Auswertung der Daten aber zumindest als intransparent bezeichnet werden muss. Einen wirksamen Rechtsschutz gibt es nicht – das hat auch der Verfassungsgerichtshof bemängelt.
Es traf Gruppen ohne Lobby
Der österreichische Gesetzgeber und die ordentlichen Gerichte haben nämlich die Entwicklung der vergangenen 15 Jahre verschlafen und damit ganz erhebliche Grundrechtsverletzungen in vielen Strafverfahren zugelassen. Diese trafen bis vor Kurzem aber nur Gruppen ohne Lobby, weshalb es niemanden besonders aufzuregen schien. Aufs Tapet kam die Problematik erst, als die politischen Eliten am eigenen Leib zu spüren begannen, was den anderen Rechtsunterworfenen zugemutet wurde, ohne mit der Wimper zu zucken.
Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs erging allerdings in einem „nicht clamorosen“Fall, also einem Fall ohne großes Medieninteresse, in dem das Höchstgericht angerufen wurde. Der VfGH hat in der Folge klargemacht, dass es ab 1. Jänner 2025 die Handysicherstellung nur mit Richtervorbehalt, streng verhältnismäßig und mit rechtsstaatlicher Fokussierung auf den Auswertungsprozess geben darf. Auch dem viel kritisierten „Lustwandeln im Garten der Zufallsfunde“dürfte damit endlich ein Riegel vorgeschoben werden. Mit seiner Entscheidung hat der Verfassungsgerichtshof aber auch klargestellt, dass Rechtsstaatlichkeit keine Immunisierung des Handys als Beweismittel bedeutet. Wohl aber heißt Rechtsstaatlichkeit, dass die Grundrechte eingehalten und verfassungsgesetzlich garantierte Freiheitsräume respektiert werden.
Ein Betroffener wandte sich an den Verfassungsgerichtshof, der die Sache allein nach rechtlichen Gesichtspunkten und reiflicher Überlegung – das Gericht ließ sich ausdrücklich nicht drängen – für uns alle entschieden hat. Eine verfassungswidrige Rechtslage wurde so zu Fall zu gebracht. Das ist gelebter und funktionierender Rechtsstaat.
An anderen Stellen scheint es dagegen im Gebälk zu krachen.
Herbert Kickl hat das viel zitierte und kritisierte Wort geprägt, wonach das Recht der Politik folge. Das ist – in Grenzen – nicht ganz unrichtig. Das zeigen auch die Folgen der Aufhebung der Handysicherstellung. Es muss eine gesetzliche Neuregelung her – das ist Aufgabe der Politik, des Parlaments. Die Rolle der Institutionen bei der Kontrolle der Politik ist groß, wie jene des Verfassungsgerichthofs, doch die Institutionen können nicht alles, und vor allem können sie es nicht augenblicklich leisten. Der Rechtsstaat ist behäbig, und das ist grundsätzlich nicht schlecht. Der anstehende Gesetzwerdungsprozess ist als wichtiger Gradmesser für das Funktionieren des Rechtsstaats zu sehen, weil in diesem Fall Betroffene die Neuregelung mitgestalten werden. Deren Betroffenheit ergibt sich aus laufenden clamorosen Strafverfahren.
Und genau hier kommt der Zivilgesellschaft eine extrem wichtige Rolle zu. Ein konkretes Beispiel: Vor drei Jahren wurde versucht, eine Bestimmung in die Strafprozessordnung hineinzuschummeln, die es bei Verdachtslagen gegen Behördenangehörige praktisch unmöglich gemacht hätte, Beweismaterial bei den betroffenen Behörden sicherzustellen. Staatsanwaltschaft
und Polizei hätten diese im Regelfall per Amtshilfe um die Herausgabe des Beweismaterials ersuchen müssen. Damit wäre eine effektive strafrechtliche Verfolgung von (insbesondere politisch motivierten) Verfehlungen im Amt kaum noch möglich gewesen. Es waren nicht rechtsstaatliche oder politische, sondern zivilgesellschaftliche Stimmen, die dieses Ansinnen als Torpedierung des Rechtsstaates, ja als „Anschlag auf den Rechtsstaat“entlarvten und seine Umsetzung durch lautstarke Empörung verhinderten. Der Rechtsstaat konnte sich und kann sich in derartigen Momenten nicht unmittelbar selbst schützen. Die Zivilgesellschaft hat ihn erfolgreich in Schutz genommen.
Die Vermischung von Recht und Politik ist ein weiteres Grundproblem des demokratischen Rechtsstaates, das sich nicht ausschalten lässt. Wenn sich Player der obersten Ebenen nicht dem Recht unterordnen, müssen insbesondere die Gerichte (nachprüfend) und die Zivilgesellschaft (vorausschauend) reagieren.
Rechtswidrige Hoheitsakte
Als besonderes Problem ist dabei das Selbstverständnis höchster Amtsträger zu sehen. Politiker agieren in bestimmten Funktionen; etwa sind Bundesminister als Weisungsspitze der Verwaltung funktional Beamte und damit ausschließlich dem geltenden Recht verpflichtet. Diese Pflicht ist strafbewehrt aufgrund des § 302 StGB (Missbrauch der Amtsgewalt). Als bloßer (Partei-)Politiker ist dieselbe Person hingegen berechtigt, politische Erwägungen und parteipolitische Partikularinteressen zu propagieren und zu fördern, das ist aber grob gesprochen „Privatsache“, nicht hoheitliche Amtstätigkeit.
Dass die betreffenden Amtsträger regelmäßig außerstande oder nicht gewillt sind, sauber zwischen ihrer amtlichen und ihrer politischen Tätigkeit zu unterscheiden, wird vor allem in ihren Medienauftritten sichtbar. In unmittelbarem Zusammenhang mit teilweise gravierenden, nicht selten rechtswidrigen Hoheitsakten geben hohe und höchste Amtsträger Statements ab, die wenig bis nichts mit Verwaltung, aber viel oder alles mit politischer Selbstinszenierung zu tun haben. Beispiele? Ischgl, Operation Luxor, Corona etc.
Dass diese Janusköpfigkeit anfällig macht für Fehlgebrauch, war und ist bekannt. Daher fungier(t)en traditionell Verwaltungsbeamte als wirksames Korrektiv. Allein, die generelle Entmachtung des „klassischen“Beamtentums durch Kabinette und Generalsekretäre, politische Besetzungen der höheren Verwaltungspositionen und die bewusste Ausschaltung des Berufsbeamtentums durch die (teilweise verfassungswidrige) Übertragung von staatlichen Verwaltungsagenden auf private Rechtsträger haben diesem Korrektiv arg zugesetzt. Diese Aushöhlung des Berufsbeamtentums erklärt den teilweise haarsträubende Fehlgebrauch von hoheitlichen Befugnissen.
Dafür braucht es die Zivilgesellschaft
Von Hans Kelsen haben wir gelernt, dass alles (Verfassungs-)Recht, so auch der Rechtsstaat, auf die „Grundnorm“zurückzuführen sei. Das heißt im vorliegenden Kontext, dass sich der rechtlich verfasste Staat nicht bis ins Letzte durch Berufung auf ein höheres Gesetz legitimieren kann. So gesehen gibt es den Rechtsstaat nur, weil wir ihn überwiegend wollen und dies auch politisch wahrnehmbar zeigen, indem wir für ihn öffentlich eintreten.
Dieses zivilgesellschaftliche Engagement beginnt damit, dass man sich interessiert, kritische Medien liest und kauft, politische Fragen diskutiert (ohne Menschen, die anders denken, vorneweg die Legitimität abzusprechen), dass man sich persönlich oder finanziell innerhalb und außerhalb staatlicher Strukturen und Parteien engagiert und sich erforderlichenfalls angemessen laut empört, wenn der Rechtsstaat oder ungeschriebene Normen des politischen Diskurses mit Füßen getreten werden – auch und gerade wenn es einen (noch) nicht selbst betrifft. Ich sehe derzeit vor allem Handlungsbedarf bei den Angriffen auf die Justiz durch aktive und ehemalige Vertreter der Politik und durch staatliche Institutionen.
Wenn wir den Rechtsstaat also in Gefahr sehen, ist die Schuld nicht bei Politikern der einen oder der anderen Couleur zu suchen, sondern bei uns selbst. Im Ergebnis ist der Rechtsstaat ist so gut, wie wir wollen, und so schlecht, wie wir es zulassen.
Richard Soyer, geboren in Villach, ist renommierter Rechtsanwalt mit Spezialisierung Strafrecht, Partner bei Soyer Kier Stuefer in Wien und Universitätsprofessor für Strafrecht an der Johannes Kepler Universität in Linz. Zahlreiche Veröffentlichungen und Vorträge unter anderem zum Unternehmensstrafrecht und zu „Strafverteidigung – Freiheitsentzug und Menschenwürde“.