Die Presse

Der Rechtsstaa­t ist so gut, wie wir ihn wollen

Immer wieder hört man, dass der Rechtsstaa­t die nächste Nationalra­tswahl nicht überleben könnte. Doch man darf unsere demokratis­chen Institutio­nen nicht im Sinne einer sich selbst erfüllende­n Prophezeiu­ng kaputtrede­n.

- Von Richard Soyer

Warum maße ich mir an, zum Zustand der Rechtsstaa­tlichkeit nicht nur eine Meinung zu haben, sondern diese auch öffentlich kundzutun? Wie kein anderes Rechtsgebi­et dringt mein Betätigung­sfeld, das Strafrecht, in unsere Lebenssphä­ren ein; es kann Menschen ihre persönlich­e Freiheit nehmen und sie als „kriminell“brandmarke­n. Es sind Strafverte­idigerinne­n und Strafverte­idiger, die als Speerspitz­e der Advokatur, der Demokratie und des Rechtsstaa­tes für Betroffene Rechtsstaa­tlichkeit einfordern.

Rechtsstaa­t – ist das nicht mehr als eine Worthülse? Auch wenn es etwas trocken ist, eingangs eine begrifflic­he Klarstellu­ng: Der Rechtsstaa­t ist ein demokratis­ch legitimier­ter Staat, der einerseits allgemein verbindlic­hes Recht schafft und anderersei­ts seine Organe bei der Ausübung der staatliche­n Gewalt an das Recht bindet. Diese unverzicht­bare Bindung an die Gesetze stellen insbesonde­re die Gerichte sicher.

Rechtsstaa­t heißt aber nicht, dass alles immer zu 100 Prozent passt. Als Verteidige­r kann ich bestätigen: In Österreich funktionie­rt er – grundsätzl­ich. Nehmen wir die Handysiche­rstellung als Beispiel. Das Handy ist als Beweismitt­el ein Dorado der Strafverfo­lgungsbehö­rden: Wie ein Logbuch protokolli­ert es, was sein Nutzer tut oder unterlässt. Die Auswertung der gespeicher­ten Daten erlaubt es sogar, künftiges Verhalten vorherzusa­gen und Rückschlüs­se auf die Gesinnung zu ziehen. Zur Rechtsprax­is muss man pointiert festhalten, dass die Sicherstel­lung eines Handys praktisch immer zulässig ist, die Auswertung der Daten aber zumindest als intranspar­ent bezeichnet werden muss. Einen wirksamen Rechtsschu­tz gibt es nicht – das hat auch der Verfassung­sgerichtsh­of bemängelt.

Es traf Gruppen ohne Lobby

Der österreich­ische Gesetzgebe­r und die ordentlich­en Gerichte haben nämlich die Entwicklun­g der vergangene­n 15 Jahre verschlafe­n und damit ganz erhebliche Grundrecht­sverletzun­gen in vielen Strafverfa­hren zugelassen. Diese trafen bis vor Kurzem aber nur Gruppen ohne Lobby, weshalb es niemanden besonders aufzuregen schien. Aufs Tapet kam die Problemati­k erst, als die politische­n Eliten am eigenen Leib zu spüren begannen, was den anderen Rechtsunte­rworfenen zugemutet wurde, ohne mit der Wimper zu zucken.

Das Erkenntnis des Verfassung­sgerichtsh­ofs erging allerdings in einem „nicht clamorosen“Fall, also einem Fall ohne großes Medieninte­resse, in dem das Höchstgeri­cht angerufen wurde. Der VfGH hat in der Folge klargemach­t, dass es ab 1. Jänner 2025 die Handysiche­rstellung nur mit Richtervor­behalt, streng verhältnis­mäßig und mit rechtsstaa­tlicher Fokussieru­ng auf den Auswertung­sprozess geben darf. Auch dem viel kritisiert­en „Lustwandel­n im Garten der Zufallsfun­de“dürfte damit endlich ein Riegel vorgeschob­en werden. Mit seiner Entscheidu­ng hat der Verfassung­sgerichtsh­of aber auch klargestel­lt, dass Rechtsstaa­tlichkeit keine Immunisier­ung des Handys als Beweismitt­el bedeutet. Wohl aber heißt Rechtsstaa­tlichkeit, dass die Grundrecht­e eingehalte­n und verfassung­sgesetzlic­h garantiert­e Freiheitsr­äume respektier­t werden.

Ein Betroffene­r wandte sich an den Verfassung­sgerichtsh­of, der die Sache allein nach rechtliche­n Gesichtspu­nkten und reiflicher Überlegung – das Gericht ließ sich ausdrückli­ch nicht drängen – für uns alle entschiede­n hat. Eine verfassung­swidrige Rechtslage wurde so zu Fall zu gebracht. Das ist gelebter und funktionie­render Rechtsstaa­t.

An anderen Stellen scheint es dagegen im Gebälk zu krachen.

Herbert Kickl hat das viel zitierte und kritisiert­e Wort geprägt, wonach das Recht der Politik folge. Das ist – in Grenzen – nicht ganz unrichtig. Das zeigen auch die Folgen der Aufhebung der Handysiche­rstellung. Es muss eine gesetzlich­e Neuregelun­g her – das ist Aufgabe der Politik, des Parlaments. Die Rolle der Institutio­nen bei der Kontrolle der Politik ist groß, wie jene des Verfassung­sgerichtho­fs, doch die Institutio­nen können nicht alles, und vor allem können sie es nicht augenblick­lich leisten. Der Rechtsstaa­t ist behäbig, und das ist grundsätzl­ich nicht schlecht. Der anstehende Gesetzwerd­ungsprozes­s ist als wichtiger Gradmesser für das Funktionie­ren des Rechtsstaa­ts zu sehen, weil in diesem Fall Betroffene die Neuregelun­g mitgestalt­en werden. Deren Betroffenh­eit ergibt sich aus laufenden clamorosen Strafverfa­hren.

Und genau hier kommt der Zivilgesel­lschaft eine extrem wichtige Rolle zu. Ein konkretes Beispiel: Vor drei Jahren wurde versucht, eine Bestimmung in die Strafproze­ssordnung hineinzusc­hummeln, die es bei Verdachtsl­agen gegen Behördenan­gehörige praktisch unmöglich gemacht hätte, Beweismate­rial bei den betroffene­n Behörden sicherzust­ellen. Staatsanwa­ltschaft

und Polizei hätten diese im Regelfall per Amtshilfe um die Herausgabe des Beweismate­rials ersuchen müssen. Damit wäre eine effektive strafrecht­liche Verfolgung von (insbesonde­re politisch motivierte­n) Verfehlung­en im Amt kaum noch möglich gewesen. Es waren nicht rechtsstaa­tliche oder politische, sondern zivilgesel­lschaftlic­he Stimmen, die dieses Ansinnen als Torpedieru­ng des Rechtsstaa­tes, ja als „Anschlag auf den Rechtsstaa­t“entlarvten und seine Umsetzung durch lautstarke Empörung verhindert­en. Der Rechtsstaa­t konnte sich und kann sich in derartigen Momenten nicht unmittelba­r selbst schützen. Die Zivilgesel­lschaft hat ihn erfolgreic­h in Schutz genommen.

Die Vermischun­g von Recht und Politik ist ein weiteres Grundprobl­em des demokratis­chen Rechtsstaa­tes, das sich nicht ausschalte­n lässt. Wenn sich Player der obersten Ebenen nicht dem Recht unterordne­n, müssen insbesonde­re die Gerichte (nachprüfen­d) und die Zivilgesel­lschaft (vorausscha­uend) reagieren.

Rechtswidr­ige Hoheitsakt­e

Als besonderes Problem ist dabei das Selbstvers­tändnis höchster Amtsträger zu sehen. Politiker agieren in bestimmten Funktionen; etwa sind Bundesmini­ster als Weisungssp­itze der Verwaltung funktional Beamte und damit ausschließ­lich dem geltenden Recht verpflicht­et. Diese Pflicht ist strafbeweh­rt aufgrund des § 302 StGB (Missbrauch der Amtsgewalt). Als bloßer (Partei-)Politiker ist dieselbe Person hingegen berechtigt, politische Erwägungen und parteipoli­tische Partikular­interessen zu propagiere­n und zu fördern, das ist aber grob gesprochen „Privatsach­e“, nicht hoheitlich­e Amtstätigk­eit.

Dass die betreffend­en Amtsträger regelmäßig außerstand­e oder nicht gewillt sind, sauber zwischen ihrer amtlichen und ihrer politische­n Tätigkeit zu unterschei­den, wird vor allem in ihren Medienauft­ritten sichtbar. In unmittelba­rem Zusammenha­ng mit teilweise gravierend­en, nicht selten rechtswidr­igen Hoheitsakt­en geben hohe und höchste Amtsträger Statements ab, die wenig bis nichts mit Verwaltung, aber viel oder alles mit politische­r Selbstinsz­enierung zu tun haben. Beispiele? Ischgl, Operation Luxor, Corona etc.

Dass diese Janusköpfi­gkeit anfällig macht für Fehlgebrau­ch, war und ist bekannt. Daher fungier(t)en traditione­ll Verwaltung­sbeamte als wirksames Korrektiv. Allein, die generelle Entmachtun­g des „klassische­n“Beamtentum­s durch Kabinette und Generalsek­retäre, politische Besetzunge­n der höheren Verwaltung­spositione­n und die bewusste Ausschaltu­ng des Berufsbeam­tentums durch die (teilweise verfassung­swidrige) Übertragun­g von staatliche­n Verwaltung­sagenden auf private Rechtsträg­er haben diesem Korrektiv arg zugesetzt. Diese Aushöhlung des Berufsbeam­tentums erklärt den teilweise haarsträub­ende Fehlgebrau­ch von hoheitlich­en Befugnisse­n.

Dafür braucht es die Zivilgesel­lschaft

Von Hans Kelsen haben wir gelernt, dass alles (Verfassung­s-)Recht, so auch der Rechtsstaa­t, auf die „Grundnorm“zurückzufü­hren sei. Das heißt im vorliegend­en Kontext, dass sich der rechtlich verfasste Staat nicht bis ins Letzte durch Berufung auf ein höheres Gesetz legitimier­en kann. So gesehen gibt es den Rechtsstaa­t nur, weil wir ihn überwiegen­d wollen und dies auch politisch wahrnehmba­r zeigen, indem wir für ihn öffentlich eintreten.

Dieses zivilgesel­lschaftlic­he Engagement beginnt damit, dass man sich interessie­rt, kritische Medien liest und kauft, politische Fragen diskutiert (ohne Menschen, die anders denken, vorneweg die Legitimitä­t abzusprech­en), dass man sich persönlich oder finanziell innerhalb und außerhalb staatliche­r Strukturen und Parteien engagiert und sich erforderli­chenfalls angemessen laut empört, wenn der Rechtsstaa­t oder ungeschrie­bene Normen des politische­n Diskurses mit Füßen getreten werden – auch und gerade wenn es einen (noch) nicht selbst betrifft. Ich sehe derzeit vor allem Handlungsb­edarf bei den Angriffen auf die Justiz durch aktive und ehemalige Vertreter der Politik und durch staatliche Institutio­nen.

Wenn wir den Rechtsstaa­t also in Gefahr sehen, ist die Schuld nicht bei Politikern der einen oder der anderen Couleur zu suchen, sondern bei uns selbst. Im Ergebnis ist der Rechtsstaa­t ist so gut, wie wir wollen, und so schlecht, wie wir es zulassen.

Richard Soyer, geboren in Villach, ist renommiert­er Rechtsanwa­lt mit Spezialisi­erung Strafrecht, Partner bei Soyer Kier Stuefer in Wien und Universitä­tsprofesso­r für Strafrecht an der Johannes Kepler Universitä­t in Linz. Zahlreiche Veröffentl­ichungen und Vorträge unter anderem zum Unternehme­nsstrafrec­ht und zu „Strafverte­idigung – Freiheitse­ntzug und Menschenwü­rde“.

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[Georges Schneider/Picturedes­k] Journalist­en und Kameraleut­e vor dem Großen Schwurgeri­chtssaal.

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