Man spricht auch Arbëresh
Im 15. Jahrhundert kamen die ersten Albaner nach Süditalien, mehrere Migrationswellen folgten. Civita (Çifti) ist eines der ersten und schönsten Dörfer der sprachlichen Minderheit an der Stiefelspitze.
Das Bellen der Hunde und das Krähen der Hähne, allzu zeitig für den Geschmack eines Urlaubers, hallen von der 500 Meter senkrechten Felswand der Pietra del Demanio wider. Das Bergdorf Civita (Çifti) liegt auf halber Höhe im Schatten der natürlichen Steinmauer. Von hier blickt man in die Tiefe, wo sich der Ponte del Diavolo (Teufelsbrücke) seit dem Mittelalter über den Raganello spannt. Civita ist ideal als Ausgangspunkt für Wanderungen und Canyoning im größten Naturschutzgebiet Italiens, dem Nationalpark Pollino, das sich übers Grenzgebiet der Basilicata und Kalabrien erstreckt und wo Gipfel bis auf mehr als 2200 Meter reichen. Civita zählt zu den „Borghi più belli d’Italia“, den schönsten Dörfern Italiens. Bekannt ist es auch mancher Besonderheit wegen.
Am Eingang zum Dorfplatz sticht eine Büste zu Ehren des albanischen Nationalhelden Skanderbeg (1405–1468) ins Auge. Das Denkmal kommt nicht von ungefähr: Civita wurde kurz nach dem Tod von Gjergj Kastrioti, wie der albanische Fürst und Heerführer bürgerlich hieß, 1471 auf den Ruinen einer 1456 von einem Erdbeben zerstörten antiken Siedlung gegründet. Skanderbeg war zuerst den Osmanen verpflichtet, besann sich aber seiner Wurzeln und führte den Abwehrkampf um die Freiheit und die Unabhängigkeit Albaniens. Er diente der Republik Venedig und bis zu seinem Tod dem Königreich Neapel. Seine Witwe, Donika, und sein Sohn fanden Zuflucht auf Skanderbegs Lehensgütern hier und konnten der Rache der Osmanen entgehen.
Gegenseitige Verbundenheit
Eine neue Welle der Einwanderung albanischer Familien nach Süditalien setzte ein, Dutzende Soldatenund Bauernkolonien wurden von Arbëresh gegründet, wie sich die Angehörigen der alteingesessenen albanischen Minderheit heute noch bezeichnen. Die meisten, darunter San Giorgio Albanese (Mbuzati), San Paolo Albenese (Shën Pali Arbëreshë), San Costantino Albanese (Shën Kostandini Arbëreshë), Civita und Frascineto (Frasnita) befinden sich in Kalabrien, viele davon in der Provinz Cosenza. In der gleichnamigen Hauptstadt werden Sprache und Geschichte der Arbëresh, deren berühmtester Abkömmling der Schriftsteller, Theoretiker des Kommunismus, Politiker und Gefangene der Faschisten Antonio Gramsci (1891–1937) sein dürfte, an der Uni gelehrt. Dass Jair Bolsonaro, der ultrarechte Ex-Präsident Brasiliens, Wurzeln in Spezzano Albanese hat, ist eine Ironie.
Das am Dorfplatz von Civita befindliche Museo Etnico Arbëresh, ein Volkskundemuseum, bringt einem die Traditionen dieser Minderheit, die durch die Abgeschiedenheit der Bergregionen bewahrt werden konnten, näher. Einheimische Führer erklären gern die Gerätschaften und Trachten, an denen man den Beziehungsstatus ablesen kann.
Ein Nachmittag in Civita ist beschaulich. Neben der „Barri Lart“hat es sich eine Runde älterer Herren auf Plastikstühlen bequem gemacht. Fast alle sprechen Arbëresh, nur einer verneint: „Ich bin in Paris geboren.“In der Heimat der Altvorderen waren einige schon. Der Barkeeper von nebenan
Eines der „Borghi più belli d’Italia“: Civita ist eine albanische Gründung aus dem
15. Jahrhundert. Unweit liegen Raganello-Schlucht und Nationalpark Pollino. erklärt: „Ich verstehe sie, wenn sie pianopiano sprechen.“Die Männer debattieren, schimpfen, scherzen, sie dominieren in diesen Stunden das Dorfleben. Wenn sich ihre Gemüter zu sehr erhitzen, erfrischen sie sich, wie die wenigen Fremden hier, mit dem eiskalten Bergwasser aus dem Brunnen. Rossella gesellt sich zu ihnen. Sie führt eine Herberge nahe dem Hauptplatz. „In einer Fußballpartie zwischen Albanien und Italien feuern wir die Squadra Azzurra an“, wägt sie patriotische Gefühle ab. Aber Civita habe starke Verbindungen zur Kultur, Geschichte und Politik der „albanischen Brüder“. Politische Repräsentanten Civitas reisten nach Albanien, zwei Mal hatte man die Ehre, den albanischen Präsidenten hier zu beherbergen. „Obwohl die erste Ansiedlung von Albanern in Italien vor 600 Jahren erfolgt ist, fühlen wir uns ihnen nahe. Wir haben beim Erdbeben vor ein paar Jahren geholfen“, erklärt Rossella. In der Volksschule wird Arbëresh zwar nicht unterrichtet, aber nicht selten kommen Erstklässler „ohne ein italienisches Wort“. Zu Hause wird oft noch die Sprache der Ahnen gesprochen.
Das Dorf pulsiert am Abend
Eine so steile wie kurze Wanderung führt vom Ortskern in die Schlucht (Le Gole del Raganollo), in die man sich mit etwas Gottvertrauen auf einer Straße mit 20 Prozent Gefälle chauffieren lassen kann. An heißen Tagen genießt man hier Abkühlung in kristallklarem Wasser, aber Absperrbänder warnen eindringlich: 2018 schwoll das scheinbar ruhige Flüsschen nach Unwettern in den Bergen zur Sturzflut an, der Tsunami riss ein Dutzend Ausflügler in den Tod. Wer eine geführte Tour durch den 13 km langen Canyon bucht, kann sich aber, durchs Wasser watend, unbeschwert daran erfreuen.
Am Abend wird der Dorfplatz zum Gastgarten: So schnell kann man gar nicht schauen, sind vor den Lokalen Agorà, zu dem ein Delikatessenladen gehört, und Kamastra viele Sessel und Tische aufgestellt und in Windeseile gedeckt. Die lokale Gastronomie ist eine Kombination aus Arbëresh-Traditionen und typisch italienischer so
wie Pollino-Küche, serviert werden Pizze, Fisch vom nahen Meer, Gnocchetti mit Ricotta, Fettuccine mit Steinpilzen und Lamm oder Ziege in Begleitung von Pollino-Wein. Wer nicht reserviert hat, muss sich in einer der Bars laben. Die „Euro Bar 2000“versprüht altertümlichen Charme mit Gästen, die sich in der alten Sprache unterhalten.
Sehr lohnend ist ein Spaziergang durch die engen Gassen. Dabei sollte man den Blick auch auf die Dächer der Steinhäuser richten. Manche der Rauchfänge tragen Amulette oder Keramikfiguren, die verhindern sollen, dass böse Geister in die Häuser gelangen. Und dann sind da noch die anthropomorphen Bauten, die dem albanischen Maler Ibrahim Kodra (1918–2006) gewidmet wurden – sie ähneln einem menschlichen Gesicht.
Die Kirche Santa Maria Assunta (Klisha Shën Mëris Fletjes) aus dem frühen 16. Jahrhundert, an die eine Trafik angebaut ist (wieder eine jener vieler Kuriositäten), beherbergt byzantinische Kunstwerke. Die Messen werden, obwohl die Bevölkerung katholisch ist, nach griechisch-orthodoxem Ritus in Italienisch und Albanisch abgehalten.
Am Ortsrand befindet sich eine Nachbildung der Festung von Krujë, von der aus Skanderbeg Albanien mehrere Jahrzehnte lang gegen die Osmanen verteidigt hat. Die Bewohner Civitas scheinen auf das Bauwerk nicht allzu stolz zu sein. Ein Einheimischer erklärt entschuldigend: „Es ist nur eine Kopie.“Das trifft übrigens auch auf die Vorlage in Albanien zu, wo in die Ruinen der Trutzburg von Pranvera Hoxha, der Tochter von Diktator Enver Hoxha (1908–1985), ein Skanderbeg-Memorial gebaut wurde.
Es riecht nach Regen. Irgendwo in den Bergen des Pollino ist wohl ein Gewitter niedergegangen. In Civita bleibt es trocken, sodass die Leute vor ihren Häusern sitzen. Durch Quitten- und Olivenhaine steigt man einen steilen Weg hinauf. Von oben zeigt sich das Ionische Meer, dessen ruhige Kies- und Sandstrände
in einer guten halben Autostunde erreichbar sind. Villapiano Lido etwa, selbst zur Hochsaison nicht überlaufen, eignet sich für einen Badetag.
In Kalabrien zählt man 49 italoalbanische Dörfer. Während in Civita eine vornehme Atmosphäre herrscht, wirken die weiter abgelegenen Dörfer wie Firmo (Ferma) oder Aquaformosa (Firmoza) herber. Auch dort wird auf den Dorfplätzen mit Statuen Skanderbeg gehuldigt.
In der einzigen Bar in Acquaformosa, gleich bei der prachtvollen Kirche des heiligen Johannes des Täufers aus dem 16. Jahrhundert, herrscht vormittags schon Partystimmung. Junge Leute feiern mit Bier, Campari Soda, Aperol Spritz. Viele von ihnen sprechen Deutsch, denn sie sind nur die Ferien über hier, sie arbeiten in Deutschland. Die Heimkehrer machen Selfies beim Ortsschild. Ein vergilbtes Plakat verweist auf einen Kongress über Migration, der in Acquaformosa stattgefunden hat. Das Thema beschäftigt nicht nur Soziologen und Anthropologen, sondern auch die Bevölkerung der Arbëresh seit Jahrhunderten.