Die letzte Chance der deutschen Außenseiter
Letzte Generation, Erdoğan-Anhänger, Völkische und Satiriker: Sie alle hoffen, Deutschland im EU-Parlament zu vertreten. Weil es bei der Wahl keine Prozenthürde gibt, haben kleine Bewegungen eine Chance. Das soll sich ändern.
Der Schauplatz ist das Berliner Villenviertel Grunewald am 1. Mai, dem Tag der Arbeit. Hier wird dieses Jahr gegen die Reichen und den Kapitalismus demonstriert. Die Polizei hat den Johannaplatz abgesperrt, auf dem Kopfsteinpflaster tummeln sich bunt gekleidete Demo-Teilnehmer. Ein paar von ihnen kleben Pickerln, auf denen „Enteignen“steht, an die Gegensprechanlagen und die hohen Zäune.
Eine Frau in orangefarbener Warnweste geht in der Menge. Für sie ist die satirische Demo linker Kapitalismusgegner eine Gelegenheit, potenzielle Wähler anzusprechen. „Letzte Generation – Protest ins EU-Parlament“, steht auf den Flugzetteln, die sie verteilt.
35 Parteien und politische Vereinigungen stehen auf den deutschen Wahlzetteln für das Europaparlament. Die wegen ihrer Klebe- und Blockadeaktionen umstrittenen Klimaaktivisten der Letzten Generation sind darunter.
Und sie könnten es sogar schaffen. In Deutschland gibt es bei Europawahlen keine Prozenthürde. Im Jahr 2019 reichten 0,7 Prozent, um einen Abgeordnetensessel zu ergattern, knapp über 240.000 Stimmen. Kommt die Letzte Generation im Juni auf ein ähnliches Ergebnis, könnte sie mit der 26-jährigen Lina Johnsen eine EU-Parlamentarierin stellen.
„Für Erdoğan wäre das ein PR-Coup“
Die Bewerbung der Letzten Generation um ein politisches Amt in Brüssel ist nicht das einzige Kuriosum im deutschen EU-Wahlkampf: Mit Dava tritt dieses Jahr eine Partei an, deren deutschtürkische Führungsriege politisch eng mit dem türkischen Präsidenten, Recep Tayyip Erdoğan, verflochten ist. „Jedem ist klar: Das sind Erdoğans Leute“, sagt Autor und Islam-Experte Eren Güvercin im Gespräch mit ausländischen Journalisten in Berlin. Dava steht für Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch. Die Abkürzung sei aber nicht zufällig gewählt, sondern religiös konnotiert. Dava bedeute so viel wie „heilige Mission“. Güvercin hält es für möglich, dass die Gruppe einen oder zwei Sitze im EU-Parlament erreichen kann. „Für Erdoğan wäre das ein PR-Coup“, so der Deutsche. Zwar könnten ein oder zwei Abgeordnete politisch nicht allzu viel ausrichten. Videos von deren Reden im EU-Parlament ließen sich aber in der Türkei gut vermarkten.
In 13 EU-Ländern gibt es derzeit keine Prozenthürde für die Europaparlamentswahl. Das bevölkerungsreiche Deutschland darf besonders viele Sitze füllen, nämlich 96. Die meisten gehen an die üblichen Verdächtigen von CDU bis zu der Linken. Neun Plätze gewannen im Jahr 2019 aber Parteien oder Vereinigungen, die kaum auf der großen politischen Bühne zu finden sind: die Freien Wähler, die Satiretruppe Die Partei (jeweils zwei), die Tierschutzpartei, Volt, die Familienpartei, die Ökologisch-Demokratische Partei und die Piraten ( jeweils einen).
Selbst die rechtsextrem-völkische NPD durfte sich von 2014 bis 2019 über ein Büro in Brüssel freuen. In diesem Zeitraum lief auch das zweite Verbotsverfahren gegen sie vor dem deutschen Verfassungsgerichtshof. Der bestätigte der NPD zwar die Verfassungsfeindlichkeit sowie eine ideologische Nähe zur NSDAP. Verboten wurde sie aber nicht, weil sie zu unbedeutend sei. Einen Mann in das EU-Parlament gebracht zu haben, änderte das offenbar nicht.
Ab 2029 soll Zwei-Prozent-Hürde gelten
Auffällig wurden die deutschen EU-Parlamentarier aus Kleinbewegungen bisher, wenn es um ihre Posten ging. Zweimal errang beispielsweise die Tierschutzpartei ein Mandat, beide Male traten die Abgeordneten aus der Partei aus, für die sie in ihren gut bezahlten Job gewählt wurden. Der Spitzenkandidat der Familienpartei legte sein Mandat zurück – und übergab es seinem Sohn. Dem Kabarettisten Nico Semsrott wurde die Satiretruppe Die Partei zu viel: Er trat aus, weil er die Witze seines Kollegen Martin Sonneborn nicht mehr ertragen konnte. Seinen Posten in Brüssel räumte er deswegen aber nicht. Bei der diesjährigen Wahl tritt die deutsch-schweizerische Autorin Sibylle Berg an seiner Stelle an.
So leicht wie dieses Jahr dürfte es in Zukunft nicht mehr sein, an einen der Jobs in Brüssel zu kommen. Ab dem Jahr 2029 soll in Deutschland eine Prozenthürde gelten. Die EU-Mitglieder haben sich geeinigt, eine solche zwischen zwei und fünf Prozent der Stimmen einzuziehen. Die deutsche soll bei mindestens zwei Prozent liegen. Das versuchte Die Partei bis zuletzt vor dem Verfassungsgerichtshof zu verhindern. Dieser hatte die früher geltende Fünf-ProzentHürde ursprünglich gekippt. Nach drei EUWahlen ohne Sperrklausel (2014, 2019 und 2024) machten die Richter im Februar aber den Weg für eine Beschränkung im Jahr 2029 frei.
Verlässliche Umfragen gibt es für die Kleinen nicht. Die Letzte Generation kündigt jedenfalls an, sie wolle das „Parlament aufmischen“, ihre Spitzenkandidatin Johnsen nennt sich „Spitzenaufmischerin“. Zumindest die Chance dazu könnte tatsächlich die letzte sein.