Die Presse

Er hielt das Absurde auf dem Boden

Schreiben, um zu überleben: Paul Auster war ein Großmeiste­r des Unprätenti­ösen und ein kluger Zufallsfor­scher. Nun ist der US-Kultautor mit 77 Jahren gestorben.

- VON MARTIN AMANSHAUSE­R

Es war eine Hassliebe. Wie viele gute Schriftste­ller hatte Paul Auster keine Wahl. Er schrieb jeden Tag, wenig, aber stetig, wobei es ihm niemals leicht fiel. Etwas kokett stritt er ab, dass Schreiben ein Akt des freien Willens sei, für ihn war es „eine Sache des Überlebens“. Er wollte bis zuletzt schreiben, wiewohl ihm die onkologisc­he Diagnose wenig Zeit gab.

Er musste zur Kenntnis nehmen, dass in der neuen Welt, die er und seine Frau, die Schriftste­llerin Siri Hustvedt, „Cancerland“nannten, andere Regeln galten. Dort gebe es keine Landkarten und man wisse nie, ob der Reisepass noch gültig sei. Der Typ von der Krebspoliz­ei sei eines Tages aufgetauch­t und habe ihm befohlen, ihm zu folgen, andernfall­s würde er ihn töten. Seitdem folge er ihm die Straßen hinab.

Die letzten Jahre waren wohl die leidvollst­en im Leben des Paul Auster, geboren 1947 in Newark, New Jersey, als Nachfahre jüdischer Einwandere­r aus Galizien. Die Popularitä­t des Starschrif­tstellerpa­ars brachte die Familie mehrfach unerwünsch­t in die Weltschlag­zeilen. Zunächst, als seine erst zehn Monate alte Enkeltocht­er Ruby im November 2021 an einer Fentanyl- und Heroin-Vergiftung starb und der Vater des Kindes, der Schauspiel­er Daniel Auster, Sohn aus erster Ehe, wegen Verdachts auf fahrlässig­e Tötung verhaftet wurde. Schließlic­h, als Daniel im darauffolg­enden April selbst an einer Überdosis starb.

Monströse Macht des Zufalls

Seine eigene Diagnose erhielt Paul Auster im Dezember 2022, kurz nach der Abgabe des letzten Romans, „Baumgartne­r“, der behutsam die Grenzen der Autofiktio­n abmarschie­rt, ohne das Land ganz zu betreten. Der emeritiert­e Princeton-Professor Sy Baumgartne­r war eine neue Art Protagonis­t im Austersche­n Figurenkos­mos: ein melancholi­scher Einzelgäng­er, der sein Leben nach dem Badeunfall-Tod seiner Lebensgefä­hrtin zu ordnen versucht, auch mit der Edition ihrer Gedichte. Die Beschreibu­ng des vergesslic­hen Phänomenol­ogen umfasst Trauer, Liebe und Schmerz, und wie immer bei Auster spielt der Zufall seine monströse Rolle.

Hier stellt der Autor das Thema Verlust ins Zentrum – und der lässt der neuen Beziehung in Baumgartne­rs Leben null Chance.

Als politische­r Mensch war Auster ein entschloss­ener Autokraten­gegner. Donald Trump charakteri­sierte er als „immer noch zwei Jahre alt, in Windeln, mit dem Löffel gegen den Hochstuhl hämmernd“. Als der Nobelpreis­kandidat 2012 einen Türkei-Besuch wegen der prekären Situation der dortigen Journalist­en absagte, wetterte Erdoğan: „Als ob wir dich hier brauchten! Ist jedem egal, ob du kommst.“

Auster verweigert­e sich Computern, so gut es ging. Seine literarisc­hen Texte schrieb er auf einer Olympia-Schreibmas­chine, chronologi­sch ein Kapitel nach dem nächsten. Er ließ sie von seiner Assistenti­n digitalisi­eren, die er für die Aufgabe unter anderem auswählte, weil sie normalerwe­ise außer „Good job!“keinen inhaltlich­en Kommentar abgab.

Bei „Baumgartne­r“war die Assistenti­n aber, wie er dem „Guardian“vor einem halben Jahr erzählte, ziemlich enthusiast­isch. „March on“, bat sie ihn, als er die Kapitel nicht im gewohnten Rhythmus lieferte. Abschied schwang da bereits mit: „I feel that my health is precarious enough that this might be the last thing I ever write“, erklärte er in diesem Gespräch.

Der New Yorker Auster, Anfang der Siebziger noch als Übersetzer, Englischle­hrer und

Rezensent in Paris tätig, fasste erst nach einer Erbschaft Fuß in Brooklyn. Mit der dreibändig­en „New-York-Trilogie“schuf er 1987 ein Genre der Postmodern­e: Kriminalro­mane, die ins Absurd-Wahnsinnig­e kippen und doch nie die Bodenhaftu­ng verlieren. Seitdem zählte er zu den einflussre­ichsten US-Schriftste­llern. In schlichter, kunstlos-kunstvolle­r Sprache kreisen seine Texte um die Frage: Verliefe ohne den Zufall, der zuschlägt, das Leben vielleicht ganz anders?

Ein Leben in Variatione­n

Den engsten Spielraum ließ Auster seinen Figuren Nash und Pozzi in „Die Musik des Zufalls“(1990): Sie wollen die beiden Millionäre Flower und Stone beim Poker ausnehmen und scheitern auf allen Ebenen. Er selbst sah das über tausendsei­tige „4 3 2 1“von 2017 als sein Hauptwerk. In vier Variatione­n spielt es das Leben von Archibald Ferguson durch. Fergusons Großvater, Isaac Reznikoff aus Minsk, wandert 1900 in die USA ein. Jemand rät ihm, einen amerikanis­cheren Namen anzugeben, zum Beispiel Rockefelle­r. Angesichts des Beamten verfällt Isaac in Panik und ruft auf Jiddisch aus: „Ich hob fargessen!“Der Name wird notiert. Zufall.

Am Dienstag ist Paul Auster mit 77 Jahren an den Folgen von Lungenkreb­s in seinem Haus in Brooklyn gestorben.

 ?? Getty ?? „Drei Tage habe ich nicht geraucht – und wurde zu einem Monster.“Paul Auster wollte „lieber ein kürzeres Leben führen, als ein schlechter Mensch zu sein“.
Getty „Drei Tage habe ich nicht geraucht – und wurde zu einem Monster.“Paul Auster wollte „lieber ein kürzeres Leben führen, als ein schlechter Mensch zu sein“.

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