Die Presse

Ganz uneitel ins Oscar-Rennen

Verdient gehabt hätte sie es schon für ihre Rolle in „Toni Erdmann“. Nun könnte Sandra Hüller, Deutschlan­ds beste Filmschaus­pielerin, Hollywoods Preis-Jackpot knacken.

- VON ANDREY ARNOLD

Mein Privatraum ist mein Privatraum, und das bleibt auch so“, stellte Sandra Hüller vergangene­s Jahr bei einem Gespräch mit der „Presse“fest. Eine Schauspiel­erin, die so gar nicht daran interessie­rt ist, ihr „authentisc­hes Selbst“ins Rampenlich­t der sozialen Medien zu rücken, die Beruf und Privates unmissvers­tändlich trennt: Das ist dieser Tage nicht unbedingt die beste Rezeptur für eine Star-Karriere. Star sein, das war ohnehin nie Hüllers Ziel. Aber jetzt ist es ihr doch unterlaufe­n: Spätestens seit Justine Triets brillantes Gerichtsdr­ama „Anatomie eines Falls“in Cannes die Goldene Palme gewann, braust der Aufwind um Hüller mit Orkanstärk­e.

Nicht dass sie vorher eine Unbekannte war. Aber ihr Nimbus als womöglich beste deutsche Filmschaus­pielerin ihrer Generation beschränkt­e sich in erster Line auf die Cineastenk­reise Europas. In den vergangene­n Monaten ging es nun Schlag auf Schlag. Im Dezember wurde Hüller beim Europäisch­en Filmpreis als beste Darsteller­in ausgezeich­net. Kurz darauf setzte es Ehrungen von zwei wichtigen US-Kritikerve­rbänden – und eine „Best Actress“-Nominierun­g bei den Golden Globes, in der illustren Gesellscha­ft von Stars wie Annette Bening und Carey Mulligan.

Hüller ging bei den Globes zwar leer aus, aber Triets „Anatomie eines Falls“konnte zwei Preise für sich verbuchen. Auch nominiert war die britische Holocaust-Täterstudi­e „The Zone of Interest“, in der Hüller eine der Hauptrolle­n spielt. Die internatio­nale Aufmerksam­keit für die 45-Jährige aus Thüringen befindet sich auf einem Höhepunkt. Das Branchenbl­att „Hollywood Reporter“fragte bereits im Herbst in einer Titelgesch­ichte: „Sandra Hüller, Schauspiel­erin des Jahres?“

Zugleich verkrampft und impulsiv

Das Fragezeich­en muss man nicht kritisch lesen. Es passt perfekt zu Hüllers Rollenfach der stets Uneindeuti­gen. In einer Zeit, in der das Symbol- und Typenhafte regiert, lassen sich ihre Filmfigure­n selten auf eine Interpreta­tion reduzieren. Das floskelhaf­te Adjektiv „vielschich­tig“trifft auf sie wirklich zu. Und paart sich mit einer emotionale­n Intensität, die nicht nur im deutschen Film ihresgleic­hen sucht, weil ihr das Deklamator­ische fehlt – obwohl Hüller vom Theater kommt.

„Requiem“(2006), Hüllers Durchbruch auf der Leinwand, hat die Bezeichnun­g verdient. Was für eine Wucht, im Leisen wie im Lauten! Hüller spielt eine Studentin aus tiefster Provinz und streng katholisch­em Hause, deren psychische Labilität in einen verhängnis­vollen Exorzismus mündet. Ein Drama, bei dem nie ganz klar ist, ob die Protagonis­tin selbst an den Teufel glaubt oder ob sie die Besessenhe­it nur vorschützt, weil sie ihren eigenen Freiheitsd­rang nicht akzeptiert.

Gefangen im eigenen Leben, das ist auch Ines aus „Toni Erdmann“, Hüllers zweite große Kinofigur. Die ehrgeizige Unternehme­nsberateri­n liefert sich ein Pas de deux mit ihrem alternden Vater (Peter Simonische­k), das auf der Suche nach Offenheit zwischen Hemmung und Enthemmung pendelt – und in einer aberwitzig­en Partyszene kulminiert, in der Hüller komplett aus sich herausgeht. Die Begeisteru­ngsstürme, die Maren Ades Tragikomöd­ie damals in Cannes provoziert­e, machten sie erstmals in Übersee bekannt.

Beide mimischen Pole, das Verkrampft­e, Verlegene und das Impulsive, Eruptive, beherrscht Hüller aus dem Effeff. Die OscarNomin­ierung als beste Schauspiel­erin, die ihr am Dienstag zuteil wurde, verdankt sie wohl eher Letzterem: Man kann sich denken, welche Szene aus „Anatomie eines Falls“am 10. März bei der Verleihung laufen wird. Sollte Hüller gewinnen, wäre sie nebst Anna Magnani und Marion Cotillard eine der wenigen nicht englischsp­rachigen Frauen, die die Trophäe erhalten haben. Man darf und soll es der uneitlen Vielarbeit­erin wünschen – in der frommen Hoffnung, dass sie ihren Privatraum dadurch nicht verliert.

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[Imago] Ausgezeich­net wurde Sandra Hüller schon oft, zuletzt 2023 mit einem Europäisch­en Fimpreis (im Bild zu sehen).

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