Protest in Russland: „Lieder singen ist doch nicht verboten“
Nach Verurteilung eines Aktivisten regt sich Unmut in der Teilrepublik Baschkortostan. Auch Putins Ukraine-Krieg spielt eine Rolle.
Wien/Ufa. Trotz eisiger Temperaturen von minus elf Grad versammelten sich am Freitag zwischen 1500 und 2000 Menschen auf dem zentralen Platz von Ufa. Ufa, das ist die Hauptstadt von Baschkortostan, einer kleinen russischen Teilrepublik östlich der Wolga, kurz vor dem Uralgebirge. Die Menschen ignorierten die Warnungen der Polizei, die sie per Megafon zum Verlassen des Zentrums aufforderte. „Wir sind Touristen, wir wollen das Denkmal besichtigen“, antworteten sie den Uniformträgern, wie ein Korrespondent des unabhängigen Nachrichtenportals Sota berichtete. Eine Gruppe Frauen versammelte sich zu einem Kreistanz, andere sangen baschkirische Volkslieder. Man trotzte der Kälte und blieb hartnäckig stehen. „Wir singen Lieder, das ist doch nicht verboten“, sagte eine Teilnehmerin. „Leben wir etwa in einem faschistischen Staat?“, fragte ein Mann.
Die Versammlung glich zunächst einem ausgelassenen Spaziergang. Bis gut ausgerüstete Sicherheitskräfte
mit Helmen anrückten. Sie verjagten die Protestierenden und nahmen mehrere Menschen fest.
In Ufa wiederholte sich, was sich zuvor im baschkirischen Städtchen Baimak zugetragen hat: Die Polizei fegte die Menschen von den vereisten Straßen. In Baimak setzten die Sicherheitskräfte zusätzlich Schlagstöcke und Tränengas ein, um eine Menge von rund 3000 Demonstranten zu vertreiben. Die Demonstranten bewarfen die Polizisten ihrerseits mit Schneebällen und Eisstücken. Auch in Baimak kam es zu mehreren Festnahmen.
Vorwurf des Extremismus
Proteste sogar dieser relativ überschaubaren Größenordnung sind selten geworden im Kriegsrussland. Noch unüblicher sind sie in der russischen Provinz. Doch die Verurteilung eines bekannten baschkirischen Aktivisten bringt die Menschen in der vier Millionen Einwohner zählenden Republik gegen die Behörden auf.
Der 37-jährige Fail Alsinow war am Mittwoch wegen angeblichem
Extremismus zu vier Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Er ist in Baschkortostan kein Unbekannter. Vor vier Jahren stand Alsinow an der Spitze einer Umweltbewegung, die erfolgreich gegen den Abbau des Kalksteinbergs Kuschtau für eine örtliche Sodafabrik protestierte. Der Berg Kuschtau gilt vielen Baschkiren als Heiligtum.
Zuletzt hatte sich Alsinow für eine stärkere Autonomie der Teilrepublik und den Schutz der baschkirischen Sprache eingesetzt. Die von ihm mitgeführte Organisation Baschkort wurde 2020 als extremistisch verboten. Er kritisierte auch den Krieg in der Ukraine, in dem die russische Armee viele Männer aus der muslimisch geprägten Republik einsetzt.
Die harte Bestrafung Alsinows trifft einen Nerv in der Bevölkerung. Es ist ein diffuser Unmut, der in Ufa seinen Ausdruck fand: Es geht um das Aufbegehren gegen die Unterbindung jeglicher gesellschaftlichen Regung seit Kriegsbeginn. Auch das Motiv der Ungerechtigkeit, als kleines, nicht slawisches Volk ein unverhältnismäßig großes Opfer in Wladimir Putins Krieg in der weit entfernten Ukraine bringen zu müssen, spielt eine Rolle, ebenso wie die generelle Angst einer Minderheit vor der vollständigen kulturellen Assimilierung. Die namensgebenden turksprachigen Baschkiren liegen heute in ihrer eigenen Republik zahlenmäßig hinter den Russen. Auch mit der ebenfalls großen tatarischen Bevölkerungsgruppe gibt es immer wieder Spannungen.
Die Kreml-treuen Medien sowie die lokalen Behörden stellen Alsinow als gefährlichen Nationalisten und Separatisten dar. Mit Gesinnungsgenossen im Ausland fordere er eine Abspaltung Baschkortostans von Russland, schrieb Republikspräsident Radij Chabirow am Donnerstag auf Telegram: „Sie rufen zu einem Partisanenkrieg hier auf.“Es sei den Behörden leider nicht gelungen, die Bevölkerung von der Gefährlichkeit dieser Leute zu überzeugen.
Es ist ein ungleicher Kampf
Ob die Menschen in Baschkortostan es wagen werden, weiter ihre Stimme zu erheben, bleibt abzuwarten. Mit Gegenpropaganda, Einschüchterungsversuchen und Repression stehen den Behörden viele Instrumente zur Verfügung, um gegen die politisch unerfahrene und kaum organisierte lokale Bevölkerung vorzugehen. Andererseits wird so die subjektive Erfahrung der Menschen, Willkür und Ungerechtigkeit ausgesetzt zu sein, nur noch manifester. Die Episode illustriert jedenfalls, dass selbst das vom Kreml verordnete Schweigeregime zornige Bürger nicht gänzlich zum Verstummen bringen kann.