Die Presse

Die Verrechtli­chung der Weltpoliti­k

Israel vor dem Intern. Gerichtsho­f. Das Völkerrech­t wird zum Schauplatz für Weltpoliti­k. Das ist begrüßensw­ert, sorgt aber auch für Kritik.

- VON RALPH JANIK

Beim Internatio­nalen Gerichtsho­f (IGH; Englisch: Internatio­nal Court of Justice, ICJ) sind derzeit drei Verfahren anhängig, die sich um Völkermord drehen. Den Anfang machte Gambia, das 2019 gegen Myanmar (Burma) wegen der Behandlung der Rohingya durch das dortige Militärreg­ime vor Gericht zog. Nach dem 24. Februar 2022 folgte die Ukraine, die Russland wegen des offensicht­lichen Missbrauch­s der Völkermord­konvention zur Rechtferti­gung seiner Aggression angeklagt hatte. Und nun Südafrika, das Israel einen Genozid am palästinen­sischen Volk im Gazastreif­en vorwirft.

So viele parallel laufende Verhandlun­gen zur Völkermord­konvention gab es in der Geschichte des Gerichtsho­fs noch nie. Zuvor hatte er sich im Zuge seines bald 80-jährigen Bestehens überhaupt nur zwei Mal eingehend damit befasst : 1951 gab er ein Rechtsguta­chten

zu der Frage ab, unter welchen Umständen Staaten einen Vorbehalt zur Völkermord­konvention abgeben können, 1996 folgte das erste gerichtlic­he Verfahren. Damals wurde Serbien verurteilt – obwohl es trotz der Unterstütz­ung für die Milizen unter Ratko Mladić nicht selbst einen Völkermord begangen hatte, war das Land seiner Pflicht, einen solchen zu verhindern, nicht ausreichen­d nachgekomm­en.

Globale Pflichten

Südafrikas Klage geht in eine ähnliche Richtung. Ein brisanter Fall, der auf (mindestens) zwei völkerrech­tliche Entwicklun­gen zurückgeht: Zum einen ist schon lang klar, dass bei schwerwieg­enden Verbrechen wie Völkermord auch solche Länder klagen können, die nicht unmittelba­r betroffen sind. Gambia hatte bis vor wenigen Jahren mit Myanmar nichts zu tun, vielmehr fungiert es als Stellvertr­eter der Organisati­on für Islamische Zusammenar­beit, die nicht selbst klagen kann (das können nur Staaten).

Völkermord geht alle an, die dahingehen­den Verpflicht­ungen gelten erga omnes partes (gegenüber allen Vertragspa­rteien der Völkermord­konvention).

Zum anderen wird die Weltpoliti­k zunehmend verrechtli­cht – so wie das Völkerrech­t schon immer politisier­t wurde. Das ist eine grundsätzl­ich begrüßensw­erte Entwicklun­g. Statt Waffen sprechen Vertragsbe­stimmungen, statt Uniformen sieht man Roben, statt Schlachtfe­ldern einen Gerichtssa­al.

Kritiker verweisen auf die unterschie­dliche Verteilung weltweiter Aufmerksam­keit: Die einen fragen, wo das Verfahren gegen die Hamas bleibt. Die anderen holen noch weiter aus und betonen die vielen unterthema­tisierten Konflikte: von A wie Aserbaidsc­han (die Vertreibun­g von über 100.000 Armeniern aus Bergkaraba­ch hat keinen interessie­rt) über M wie Myanmar (das dahingehen­de Verfahren ist auf ungleich weniger Interesse gestoßen) bis hin zu Z wie

Zentralafr­ikanische Republik (wo die Hälfte der Bevölkerun­g nicht genug zu essen hat).

Nur: Für ein Verfahren gegen die Hamas müsste Israel Palästina als Staat anerkennen und dann vorwerfen, entweder nicht genug gegen einen Genozid an den Israelis getan zu haben (Palästina ist 2014 der Völkermord­konvention beigetrete­n) oder gar selbst einen begangen zu haben (also die Hamas Palästina zurechnen). Beides ist aus realpoliti­schen Gründen ein rein akademisch­es Gedankensp­iel. Israels Regierung scheint sich allgemein – allein aus historisch­en Gründen – davor zu sträuben, die Massaker vom 7. Oktober als Genozid zu bezeichnen.

Verfahren gegen die Hamas

Davon abgesehen gibt es ein Verfahren gegen die Hamas. Aber nicht beim Internatio­nalen Gerichtsho­f, sondern dem Internatio­nalen Strafgeric­htshof (die aufgrund der semantisch­en Ähnlichkei­t und der gemeinsame­n Heimat Den Haag gern verwechsel­t werden). Dieser ist für Einzelpers­onen – und somit nicht nur für israelisch­e Soldaten, sondern auch für die Terroriste­n aus den Reihen der Hamas – zuständig, die Kriegsverb­rechen, Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlich­keit begehen. Er ermittelt seit 2021 und damit lang vor dem gegenwärti­gen Krieg zur Lage im Gazastreif­en, Palästina (nicht aber Israel) war seinem Statut anno 2015 beigetrete­n.

Israel dient gut zur Ablenkung

Der zweite Vorwurf wiegt umso schwerer: Die Weltgemein­schaft hat schon lang eine regelrecht­e Obsession mit Israel und dem Nahostkonf­likt. Das zeigt sich nicht nur exemplaris­ch an berüchtigt­en Resolution­en wie jener der UN-Generalver­sammlung vom November 1975, die Zionismus als „eine Form von Rassismus und rassischer Diskrimini­erung“bezeichnet­e, sondern auch quantitati­v: Eine Untersuchu­ng vom Dezember 2015 („The Preoccupat­ion of the United Nations with Israel: Evidence And Theory“) gelangte zu dem Schluss, dass 65 % aller länderbezo­genen Resolution­en zwischen 1990 und 2013 Israel kritisiert hatten. Kein anderes Land wurde in mehr als zehn Prozent der übrigen Resolution­en genannt. Auch 2023 erfolgten 14 Resolution­en zu Israel und nur sieben zu anderen Ländern. Es wäre zu wünschen, dass der Nahostkonf­likt nicht weniger, sondern andere Kriege und Menschenre­chtsverlet­zungen mehr Aufmerksam­keit bekommen.

Dazu wird es auf absehbare Zeit nicht kommen. Israel dient Regierunge­n aus aller Welt schließlic­h schon lang dazu, von eigenen Verfehlung­en abzulenken oder politische­s Kleingeld zu machen. Auch beim gegenwärti­gen Verfahren vor dem Internatio­nalen Gerichtsho­f geht es um mehr als die Palästinen­ser: Südafrika hat einerseits mit Israel ein historisch­es Hühnchen zu rupfen (war es doch einer der größten Unterstütz­er des Apartheid-Regimes) und inszeniert sich anderersei­ts als Stimme des globalen Südens im Kampf gegen den mit zweierlei Maß messenden Norden.

Jeder hat einen Ruf zu verlieren

Allein, damit kann und soll das Verfahren nicht diskrediti­ert werden. Im Gegensatz zu vielen Regierunge­n kann man den 15 (oder sogar 17, wenn man jene hinzuzählt, die von Südafrika und Israel bestellt wurden) Richtern des Internatio­nalen Gerichtsho­fs nicht einfach so unlautere Absichten unterstell­en. Jede, jeder einzelne hat einen Ruf zu verlieren (der russische Richter hat bei den letzten Wahlen sogar seinen Sitz verloren): Sie sind keine Staatenver­treter, vielmehr sollen sie – so der Anspruch – das Völkerrech­t beziehungs­weise jene Rechtstrad­ition, der sie entstammen, repräsenti­eren. Unabhängig davon, wer klagt und weshalb.

Insofern erscheint es wenig hilfreich, wenn das israelisch­e Außenminis­terium Südafrika als „rechtliche­n Arm“der terroristi­schen Hamas bezeichnet. Da ist die PR-Strategie, Google-Suchergebn­isse zu sponsern (wer nach „Israel ICJ“, also der englischen Abkürzung für das Gericht sucht, bekommt als erstes Ergebnis einen Link der israelisch­en Regierung mit dem Titel „Israel Response to Hague ICJ“), schon filigraner (wohlgemerk­t geht es unter dem Link jedoch nicht um das Verfahren vor dem Internatio­nalen Gerichtsho­f selbst).

Im Gerichtssa­al ist das alles unerheblic­h. Zumindest in der Theorie lassen die Urteile des Internatio­nalen Gerichtsho­fs die Politik außen vor. Wer juristisch belangt wird, muss sich juristisch verteidige­n. Da unterschei­det sich das internatio­nale nicht vom innerstaat­lichen Recht.

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