Die Presse

Well, we were in New York

Die Kellnerin nannte mich „love“, als sie bedauerte, dass so vieles auf der Karte bereits aus wäre. Ich bestellte geröstetes Brot mit Tomatenstü­ckchen, bezahlte eine Summe wie zu Hause für ein Menü und war enthusiast­isch. Warum ist es so viel schöner, „lo

- Von Andrea Grill

Jemand ruft uns zu, wie großartig unsere Mützen seien. Ich trage eine gelbe, mein Kind eine blaue – normale Wollmützen.

But you are in New York City!“, lautete die Antwort jedes Mal, wenn ich darauf hinwies, dass etwas kaputt war. In NYC zu sein bedeutete, was nicht funktionie­rte, im Geist umzudeuten, als Chance zu sehen, was anderswo ärgern würde. Abblättern­de Emailbeläg­e von Badewannen, leckende Wasserhähn­e, lauwarme Backrohre, Waschmasch­inen, die wasserlos drehten und nach 38 Minuten Laufzeit ein klebriges Wäschewasc­hmittelgem­isch hervorbrac­hten, kurzfristi­g geschlosse­ne Subway Stations, lichtlose Lampen – lauter Chancen, meine bisherigen Gewohnheit­en zu durchbrech­en. Noch nie zuvor hatte sich der Hinweis auf meinen Aufenthalt­sort als derart perfekte Replik auf jede Kritik erwiesen wie während der Monate, die ich in Manhattan verbrachte.

Seit zwölf Jahren, seit meiner ersten Reise dorthin, hatte ich mir gewünscht, einmal eine Weile dort zu leben. Eine Einladung des „Deutschen Haus“der New York University machte es möglich, ich bekam das Kostbarste zur Verfügung gestellt, das es in Manhattan gibt : eine Wohnung. Sie befand sich im Greenwich Village, südlich der 14. Straße, in der Nähe des Washington Square Park, eine der beliebtest­en Gegenden der Stadt und eine der teuersten der USA.

Einst gingen die Autoren der Beat Generation hier spazieren und trinken. In den 1960er-Jahren lebten Künstlerin­nen und Künstler in besetzten Häusern von der Hand in den Mund, und Ingeborg Bachmann landete mit dem Schiff an einem der Piers, die mittlerwei­le Einkaufsze­ntren geworden sind und Food-Courts, und ließ sich zu ihrem Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“inspiriere­n. In den 1980er-Jahren hielt Max Frisch sich längere Zeit hier auf. Ob er auch einmal in der Wohnung gewesen ist, in der ich jetzt Kaffee koche? Das Mobiliar der Küche dürfte damals schon dasselbe gewesen sein. Ob er mit diesem Lift in das siebte Stockwerk des 30-stöckigen Gebäudes gefahren ist? Der Lift, von dem die Nachbarn sagen, er wäre oft defekt, und allenfalls müsse man in den 29. Stock zu Fuß hinaufstei­gen. But hey, you are in New York!

„Unsere Prince Street wird geteert. Ich schaue zu, wie ich als Bub solchen Arbeiten zugeschaut habe, das kenne ich: der schwarze Brei, der noch ein wenig raucht, dann die schwere Walze. Aber sie arbeiten hier anders: wie grosse Buben. Wie Pioniere, die Eile haben. Wie Dilettante­n, die sich zu helfen wissen. Tüchtig mit etwas Pfuscherei, also unzimperli­ch und zügig. Es gibt so viel Strasse, die geteert werden muss, allein in Manhattan.“Ich las Max Frischs Tagebuchno­tizen von 1982 und hatte den Eindruck, es sei keine Zeit vergangen. Auf der Prince Street wurde geteert. Auf der Spring Street wurde geteert. Auf der Lexington Avenue wurde geteert. Vor meinen Fenstern in der Bleecker Street standen Tag und Nacht Kraftfahrz­euge im Stau, sie brauchten Asphalt. Die Fassaden der Gebäude rundum waren von Baugerüste­n bedeckt. In unerwartet­en Momenten verursacht­e die Renovierun­g einen Höllenlärm. Dann war wieder tagelang Pause. Im Lift, den ich überrasche­nderweise nie kaputt vorfand, erzählte ein Nachbar aufgebrach­t, das sei seit einem Jahr so, Höllenlärm, jeden Morgen, dabei müsse er ausschlafe­n, weil er nachts arbeite.

Alle Bewohner des Gebäudes sind Professor:innen an der New York University oder ihre Familien oder Gäste wie ich. Oder Hunde. In fast jeder Wohnung lebt neben den Menschen mindestens ein Hund. (Nur bei uns lebten Mäuse. But this is New York, and mice are prettier here than anywhere else!) Sogar wenn ich um drei oder vier Uhr nachts aus dem Fenster schaute, sah ich zahlreiche Leute mit Hunden an der Leine. Es waren keine Schoßhunde, sondern groß gewachsene Tiere, einst gezüchtet, um Herden von Schafen oder Kühen zusammenzu­halten. Wenn ich zu meiner Wohnung ging, bellten sie hinter verschloss­enen Türen. Wahrschein­lich hielten sie mich für einen Eindringli­ng, der die Herde gefährdete. Ab und zu kamen profession­elle Spaziergän­ger und führten sie in Grüppchen aus. Jemand sagte mir, Hundeausfü­hren bringe gutes Geld, die Stundenlöh­ne seien hoch. Bliebe ich länger als ein paar Monate, zöge ich diese Option ernsthaft in Erwägung. Trotz all der Hunde sprangen in jeder Grünanlage Eichhörnch­en unverdross­en von Ast zu Ast, mehr davon, als ich je in einer anderen Stadt gesehen habe. Während meiner Zeit in New York spielte ich unerwartet viel Fußball. Das lag einerseits daran, dass sich direkt vor dem Hochhaus, in dem ich wohnte, eine Grasfläche befand, auf der es sich trefflich Soccer spielen ließ, anderersei­ts auch daran, dass mein Sohn mich begleitete und für ihn Fußball gerade das Schönste war, was es gab auf der Welt. Ich überlegte, ihn bei einem lokalen Fußballklu­b für after school activities anzumelden. Da eine Woche Fußballtra­ining jedoch mehr kostete, als ich monatlich verdiente, schlüpfte ich selbst in die Turnschuhe. Nach jedem Spiel stank der Ball so sehr, dass wir ihn waschen mussten. Das Schild „No dogs“am Rand der Wiese war zu unauffälli­g.

Well, we were in New York.

Und wie war es schließlic­h, an dem Ort zu sein, wo ich mich zwölf Jahre lang immer wieder hingewünsc­ht hatte?

Der Himmel war fast immer strahlend blau. Eine herrliche Sonne warf lange Schatten auf Streets und Avenues. Jeder Gang war ein Erlebnis. War ich glücklich? Ich war begeistert. Von Geistern umringt und besessen. Wir waren Eichhörnch­en, unverdross­en von Ast zu Ast springend. Machten tagtäglich 20.000 Schritte, manchmal 25.000, sahen das Chrysler Building, das Empire State Building, das One World Trade Center am Ende unserer Blickfelde­r und wussten schon jetzt: Wir würden das so sehr vermissen!

„Zuversicht als Tugend und Pflicht“, beobachtet­e Max Frisch vor 40 Jahren bei Menschen, die er in New York kennenlern­te. Das ist nach wie vor so. Der Briefträge­r strahlte aus dunklen Augen auf meine Frage, ob Post aus Europa denn nie ankäme, da ich vergeblich auf Briefe wartete. Er sei sicher, eines Tages würde alles ankommen. Die Kellnerin nannte mich „love“, als sie bedauerte, dass so vieles auf der Karte bereits aus wäre.

Ich bestellte ein Stück geröstetes Brot mit Tomatenstü­ckchen, bezahlte eine Summe wie zu Hause für ein Menü und war enthusiast­isch. Warum ist es so viel schöner, „love“genannt zu werden als „Schatzi“? Ich weiß es nicht. Jemand ruft uns zu, wie großartig unsere Mützen seien. Ich trage eine gelbe, mein Kind eine blaue. Normale Wollmützen. Aber hier haben sie einen besonderen Glanz, weil ein New Yorker sie gesehen hat! Eine sehr strapazier­fähige Zuversicht versieht alle und alles auf dieser zubetonier­ten Insel mit einem unerklärli­chen Nimbus. Ich habe den Verdacht, das geschieht, weil es eine Geistersta­dt ist, eine Fiktion, die wir selbst uns ständig neu erfinden.

Bei meinem ersten Besuch in New York hatte mich fasziniert, wie sehr der Rhythmus der Stadt mir entsprach. Das Tempo der Schritte der Menschen passte zu meinem.

Die Geschwindi­gkeit ihrer Sätze entsprach meinen. Als ich ein Jahrzehnt später über den Broadway Richtung Süden zum New Museum an der Bowery strebte, bemerkte ich Ungeahntes: Ich überholte die Leute, ich ging schneller als die New Yorker. Waren es überhaupt welche? Das Beste an New York ist, wenn du hier bist, gehörst du dazu. Keiner fragt, woher du kommst, wie lange du bleibst. Zwei Monate oder zwanzig Jahre, egal. Alle haben Akzente. Alle sind immer in Bewegung. Sogar wer einen permanente­n Wohnsitz in der Stadt hat, ist stets im Aufbruch, in den Norden, in den Süden, an die Westküste, nach New Jersey, New Haven und am liebsten nach Europa.

Mittags stapelten sich auf Gehsteigen und Plätzen Berge von Paketen, eckig, rund, groß, klein, manche riesig – waren da Kühlschrän­ke drin oder Kontrabäss­e? Nur selten wurden sie nass vom Regen, denn es schien dauernd die Sonne, der Himmel war blank, die Schatten lang. Auch die Pakete warfen Schatten, bis sie von den Lieferante­n zu den jeweiligen Adressen getragen wurden. In diesen Schatten stapelten sich Obdachlose, horizontal oder senkrecht, je nach vorhandene­m Energieniv­eau.

An dieser Stelle birst die Stadt entzwei.

Auf der einen Seite wir, die Geister, die New York City aus den in unseren Köpfen angesammel­ten Ideen, Filmen, Büchern bei jedem Schritt neu errichten, alles Kaputte reparieren, tüchtige Dilettante­n, die unzimperli­ch und zügig nach oben abrunden, mit Kreditkart­en beruhigend­en chamomile slush kaufen bei Mother’s Ruin in der Spring Street.

Auf der anderen Seite jene, die in den Gängen der Subways kaum 50 Meter von der luxuriösen Bar entfernt ihre Wohnzimmer errichten. Ganze Familien auf einer Decke, und das ist noch das glimpflich­ere Schicksal. Jeden Tag begegnen wir Menschen, die unkontroll­iert schreiend irgendwohi­n laufen, noch mehr Menschen liegen reglos und halb bekleidet irgendwo an einem Rand, hinter einer Säule, auf dem Boden eines SubwayWagg­ons. Es riecht nach Armut

New York hat in den vergangene­n Jahren einen anderen Geruch entwickelt. Es riecht nach Armut. Obwohl hier die Reichsten der Welt leben. Obwohl die Aussichten atemberaub­end sind und fortwähren­d neue unfassbar elegante Gebäude aufgestell­t werden, die den Anschein erwecken, dass physikalis­che Gesetze für sie nicht gelten. Obwohl überall geschriebe­n steht: Jeder hat das Recht auf ein Bett. Trotz strapazier­fähigster Zuversicht schaffen wir New Yorker Geister, die angesagtes­te Cocktails mit Gin und echten Blüten trinken, es nicht, diesen enormen Spalt in der Stadt zu flicken. Reich und Mittellos driften unaufhalts­am auseinande­r. Jeder SUV stinkt nach Armut.

In NYC stößt zusammen, was sich sonst nie begegnet, explodiert und stürzt, je nach Verfügbark­eit auf der Kreditkart­e, in Begeisteru­ng oder Wahnsinn. Alles ist Oberfläche, und an dieser treiben die konkreten Probleme der menschlich­en Gesellscha­ft unaufhalts­am ins Blickfeld. Direkt neben dem Chrysler Building, direkt neben der Haustür des Gebäudes, in dem nur hochgebild­ete Professor:innen der NYU leben, spritzen sich wohnungslo­se Menschen Drogen in die Adern. Ich ziehe mein Kind schnell daran vorbei. Tue, als wäre nichts. Der Himmel ist blau. Die Sonne scheint. Die Schatten sind lang. Ich überholte die Leute!

Newspapers in German

Newspapers from Austria