Warum Erdoğan einen farblosen Technokraten nominiert
Bei der Kommunalwahl im März hat der Kampf um Istanbul landesweite Bedeutung. Den Wahlkampf will der Präsident selbst führen.
Istanbul. Recep Tayyip Erdoğan mischt in jedem türkischen Wahlkampf mit – auch wenn er selbst nicht kandidiert. Der Präsident stellte die ersten Kandidaten seiner Partei AKP für die Kommunalwahl am 31. März vor und machte klar, dass er besonders den Kampf um die 16-Millionen-Metropole Istanbul selbst führen will. Denn in Istanbul regiert seit 2019 der Oppositionspolitiker Ekrem
Imamoğlu, der bei der nächsten Präsidentenwahl 2028 gegen Erdoğan antreten will.
Als AKP-Bewerber für das Bürgermeisteramt in Istanbul schickt Erdoğan seinen ehemaligen Bauminister Murat Kurum ins Rennen, der mit einer BauAmnestie Tausende abrissreife Gebäude legalisierte und von Kritikern für den Tod von Zehntausenden Menschen bei dem Beben im Februar mitverantwortlich gemacht wird. Allein im Erdbebengebiet habe Kurum mit seiner Amnestie fast 300.000 illegale Gebäude für bewohnbar erklärt, kommentierte der Journalist Murat Ağırel von der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“. Nach Bekanntgabe seiner Kandidatur kündigte Kurum an, er werde sich als Bürgermeister für mehr Erdbebensicherheit in Istanbul einsetzen.
Das Erdbeben war denn auch Thema bei einem seiner ersten Auftritte als Kandidat am Dienstag. Sollte er gewinnen, so Kurum, werde ein Erdbeben Istanbul nichts mehr anhaben. Er versprach zudem Logistikzentren für den chronisch belasteten Verkehr und einen wirtschaftlichen Aufschwung durch einen Fokus auf Produktion. Eigentlich stammt Kurum aus Ankara und hat erst seit der Parlamentswahl vom Mai eine politische Basis in Istanbul.
So bezweifeln selbst regierungsnahe Medien, dass er die AKP-Parteibasis und die Wähler in Istanbul für sich begeistern kann. Doch für Erdoğan gibt es nach Ansicht von Beobachtern wichtigere Kriterien. Der Journalist und AKP-Kenner Rușen Çakır sagte im
Internet-Fernsehkanal Medyascope, Erdoğan haben Kurum zum Kandidaten gemacht, weil dieser mit 47 Jahren relativ jung – und ein Technokrat sei. Er sei Erdoğan gegenüber loyaler als andere mögliche Kandidaten, die eigene politische Ziele verfolgten. Erdoğan wolle die Lücke, die durch Kurums politische Schwäche entstehe, selbst ausfüllen, so Çakır.
Imamoğlu führt in Umfragen
Erdoğans Rede bei der Präsentation von Kurum und 25 weiteren AKP-Kandidaten für die Wahl gab einen Vorgeschmack darauf. Der Präsident lobte seine eigene Zeit als Istanbuler Bürgermeister in den 1990ern „legendär“und „vorbildlich“. Heute werde Istanbul von einem „Teilzeit-Bürgermeister“regiert, sagte Erdoğan. Die AKP wirft Imamoğlu vor, bei Unwettern und anderen Krisen in der Stadt häufig im Urlaub oder im Ausland zu sein.
Imamoğlu hatte vor fünf Jahren die von Erdoğan begonnene 25-jährige Ära islamisch-konservativer Bürgermeister in Istanbul beendet. Damals versuchte Erdoğan vergeblich, den Sieg des Oppositionspolitikers durch Druck auf die Wahlbehörde und eine Wahlwiederholung zu verhindern. Auch diesmal ist das Istanbuler Rennen das mit Abstand wichtigste bei der Kommunalwahl im März. „Istanbul ersteht wieder auf“, lautet der AKP-Wahlslogan.
Derzeit liegt Imamoğlu in den Umfragen klar vor Kurum. In einer Erhebung des Instituts MetroPoll kam Imamoğlu im Direktvergleich gegen Kurum auf 48 zu 34 Prozent. Wenn Imamoğlu sein Bürgermeisteramt verteidigen könne, würde er wohl auch die Präsidentenwahl in vier Jahren gewinnen, sagt MetroPoll-Chef Özer Sencar voraus. Das gibt der Kommunalwahl ihre landesweite Bedeutung. Nur: Bei der Wahl 2019 wurde Imamoğlu von anderen Oppositionsparteien aktiv unterstützt. Noch ist offen, ob er erneut auf sie zählen kann, zumal die einst oppositionelle Allianz teilweise zersplittert ist.
In jedem Fall betrachtet Erdoğan Imamoğlu als gefährlichen Gegner; die Justiz hat mehrere Verfahren eröffnet, die mit einem Politikverbot für den Bürgermeister enden könnten. Imamoğlu so aus dem Spiel nehmen zu lassen, wäre jedoch riskant, weil ein Ersatzkandidat der Opposition dann voraussichtlich von einem großen Solidarisierungseffekt profitieren könnte.