Michel löst Panik in EU-Führung aus
Die Ankündigung von Ratspräsident Michel, für das EU-Parlament zu kandidieren, macht vorzeitige Entscheidungen über die künftigen EU-Spitzenposten notwendig.
Es gibt in der Politik den richtigen und den falschen Zeitpunkt, Kandidaturen anzukündigen. EU-Ratspräsident Charles Michel hat angesichts der verursachten Panik und der verärgerten Reaktionen den falschen Zeitpunkt gewählt, seine Kandidatur für die Wahl zum Europäischen Parlament im Juni anzukündigen. Der Chef der größten Fraktion im EU-Parlament, Manfred Weber (CSU), warnt vor einer noch größeren Instabilität im Europäischen Rat und sogar einem möglichen Transfer der Themensetzung zu Ungarns EU-Präsidentschaft, die Anfang Juli beginnt.
Wenngleich EU-Diplomaten und Michel selbst zu beruhigen versuchen, löste die Ankündigung unmittelbar alle Bremsen des neuen Personalkarussells in Brüssel. Es beginnt sich zu drehen, obwohl sich alle – inklusive Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen – noch gern ein wenig Zeit gelassen hätten.
Grund ist, dass mit dem frühzeitigen Ausstieg des liberalen belgischen Politikers aus dem Amt des Ratspräsidenten schon unmittelbar nach der EU-Wahl das künftige Paket von Spitzenposten geschnürt sein muss, sonst entsteht tatsächlich das von Weber befürchtete Vakuum, in dem plötzlich der am 1. Juli beginnende ungarische Ratsvorsitz unter dem EU-kritischen Ministerpräsident Viktor Orbán die Themensetzung bei EU-Gipfeltreffen übernehmen könnte.
Eigene Ambitionen
Charles Michel will bis Juli im Amt verbleiben und dann an der ersten Sitzung des neu gewählten Europäischen Parlaments teilnehmen. Da er als Vertrauter von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gilt, dürfte er aber auch selbst auf einen der dann rasch zu bestellenden Posten hoffen. Laut dem Magazin „Politico“zielt er darauf ab, als Spitzenkandidat der Liberalen sogar beim Rennen um die Kommissionsführung mitzuspielen. Zu bestellen sind nach der EUWahl neben einem neuen Ratspräsidenten nämlich auch die gesamte EU-Kommissionsspitze und der Präsident oder die Präsidentin des EU-Parlaments.
Wollen Europäische Volkspartei, Sozialdemokraten und Liberale weiterhin das Schicksal der EU in die Hand nehmen und es nicht den mit großer Wahrscheinlichkeit ge
stärkten rechtsnationalen Kräften überlassen, werden sie sich untereinander auf die Postenvergabe verständigen müssen. Angesichts der von Michel erst am Wochenende ausgelösten Panik verwundert es nicht, dass sofort die ersten Kandidatenspekulationen auftauchten.
Weitgehend fest steht, dass Ursula von der Leyen weiterhin Präsidentin der Europäischen Kommission bleiben soll. Die deutsche Christdemokratin hat die EU angesichts von Covid-Pandemie und Ukraine-Krieg mit ruhiger Hand durch eine der schwierigsten Phasen ihrer Geschichte gelenkt. Wird sie erneut bestellt, ist davon auszugehen, dass der Posten des Ratspräsidenten entweder erneut an einen Liberalen oder diesmal an einen Sozialdemokraten geht. Im Gespräch ist etwa der bisherige portugiesische Ministerpräsident António Luís Santos da Costa. Der Sozialdemokrat sah sich zuletzt mit Korruptionsvorwürfen gegen sein Umfeld konfrontiert, seine eigene Involvierung konnte bisher aber nicht stichhaltig nachgewiesen werden. Als Ratspräsident wurden bisher erfahrene Regierungspolitiker eingesetzt, was für ihn gelten würde.
Eine Alternative für diesen Posten, auf die sich viele rasch einigen könnten, ist die ehemalige finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin, ebenfalls eine Sozialdemokratin, die aktuell nur einen Beraterjob am Institute for Global Change des britischen Ex-Premiers Tony Blair innehat. Sowohl Costa als auch Marin kommen ebenso wie von der Leyen aus Westeuropa.
Ihre Bestellung würde bedingen, dass entweder der Posten des künftigen Parlamentspräsidenten oder zumindest des EU-Außenbeauftragten und Vizepräsidenten der Kommission an einen Osteuropäer gehen müsste.
Marin, die ihr Land in die Nato geführt hat, eignet sich laut Quellen aus Brüssel auch als EU-Außenbeauftragte. Dies hätte zwar den Vorteil, dass sie eine gute Gesprächsbasis mit von der Leyen hat, jedoch den Nachteil, dass sie von ihrer Regierung, die von Petteri Orpo, einem Konservativen, geleitet wird, unterstützt werden müsste. Orpo dürfte für den künftigen Kommissarsposten eher jemanden aus den Reihen seiner Mitte-rechts-Koalition im Auge haben.
Die Entscheidung über die neue Aufteilung der EU-Spitzenposten wird angesichts der vielen Parameter der politischen und geopolitischen Balance sowie der notwendigen Gleichberechtigung der Geschlechter schwierig genug. Dazu kommt, dass nun die Vorbereitungen beginnen, bevor noch das Wahlergebnis der Europawahl feststeht, bei der beispielsweise die Liberalen mit einer herben Niederlage rechnen müssen.