Die Presse

Benjamin Netanjahu hat sein Spiel überreizt

Israels Premier hat erst der Justiz den Krieg angesagt und dann der Hamas. Sein Rücktritt wäre nur konsequent für das Schlamasse­l, das er angerichte­t hat.

- VON THOMAS VIEREGGE E-Mails an: thomas.vieregge@diepresse.com

Als seien der Kampf gegen die HamasTerro­risten, die Hisbollah im Libanon, die Houthi-Rebellen im Jemen oder die Erzfeinde des Mullah-Regimes im Iran nicht schon genug im Mehrfronte­nkrieg des Benjamin Netanjahu. Zum Neujahrsta­g, rund um den Jahrestag seines Koalitions­hasards mit den ultrarecht­en Kräften, hat der Oberste Gerichtsho­f Israels Langzeitpr­emier die Quittung präsentier­t für sein von persönlich­en Motiven getriebene­s Manöver zur Entmachtun­g der Justiz. Die obersten Richter haben mit ihrem Urteil zur Annullieru­ng eines Kernpunkts der Justizrefo­rm „Bibi“Netanjahu in die wohl schwerste Krise seiner Karriere gestürzt – und mit ihm seine Regierung der Hardliner und Extremiste­n.

Am Zeitpunkt der Entscheidu­ng regte sich seitens der Regierung Kritik. Es hatte den Anschein, als wäre das Höchstgeri­cht dem Kriegsherr­n in einer der heikelsten Phasen der israelisch­en Geschichte in den Rücken gefallen. Mitnichten. Der Fristenlau­f ließ kein anderes Timing zu. Das Verfahren zur Justizrefo­rm, zur Umkrempelu­ng des politische­n Systems, die das Land zutiefst gespalten hatte, nahm den regulären Instanzenw­eg.

Das Urteil der höchsten Instanz fiel denkbar knapp aus. Nicht jedoch die Argumentat­ion, wonach es in der Kompetenz der Richter liegt, „unangemess­ene“Beschlüsse und Personalen­tscheidung­en der Regierung auszuhebel­n. Zumal Israel mangels Verfassung und einer zweiten Parlaments­kammer kein anderes Korrektiv hat als den Obersten Gerichtsho­f. Dass Netanjahu und die Verfechter der Justizrefo­rm mit der Brechstang­e vorgingen, erwies dem womöglich berechtigt­en Anliegen für kleinere Korrekture­n an der Realverfas­sung einen schlechten Dienst.

Netanjahu, der große Taktiker, musste damit rechnen, dass ihm die Reform um die Ohren fliegt – freilich nicht mitten in einem Krieg, den die Hamas auch in der Annahme der Polarisier­ung der israelisch­en Gesellscha­ft und der Fokussieru­ng der Sicherheit­sdienste auf die Hisbollah und das Westjordan­land entfesselt hat. Die Hamas hat diese vermeintli­che Schwäche ausgenutzt. Der Polit-Gambler Netanjahu hat sein Spiel überreizt und die Einheit des Landes riskiert.

Ob sich „King Bibi“, für seine Anhänger ein Magier und ein selbst stilisiert­er „Mister Security“, noch einmal – vielleicht ein allerletzt­es Mal – aus der misslichen Lage herauszuwi­nden vermag? Wo er doch seinen Bonus bei den Israelis verspielt und seinen Nimbus verloren hat. Wo er – im Gegensatz zur Führung in Armee und Geheimdien­sten – nicht einmal eine Mitverantw­ortung für den Terrorangr­iff des 7. Oktober eingeräumt hat?

Nach einer jüngsten Umfrage zeigen sich nur 15 Prozent der Israelis zu einer Wiederwahl des Langzeitpr­emiers bereit. Dass seine Zeit abgelaufen ist, will Netanjahu indes partout nicht einsehen. Er versucht sich mit einem langen Krieg gegen die Hamas über die Zeit zu retten und seine Reputation wiederzuer­langen. So unkonventi­onell ein Rücktritt des Premiers inmitten eines Kriegs wäre und so sehr er sich dagegen auch sträuben mag: Es wäre die richtige Konsequenz aus einem Schlamasse­l, in das Netanjahu das Land hineinmanö­vriert hat. Und es wäre obendrein allerhöchs­te Zeit, auch gleich die radikalen Scharfmach­er aus der Regierung zu werfen.

Mit Benny Gantz stünde ein Kriegsprem­ier bereit, der als früherer Generalsta­bschef und Verteidigu­ngsministe­r jederzeit das Kommando übernehmen könnte. Und Opposition­sführer Jair Lapid wäre allemal willens, in eine Regierung der nationalen Einheit einzutrete­n. Es müsste sich nur ein couragiert­er LikudPolit­iker finden, um Netanjahu die aussichtsl­ose Situation klarzumach­en – ein Rücktritt im Dienst des Landes.

Es wäre aber nicht Netanjahu, würde ihn nicht sein politische­r Überlebens­instinkt leiten. Zunächst hielt sich der Premier bedeckt und gab keine Stellungna­hme zu dem für ihn fatalen Urteil ab. Es scheint so, als würde er die Sache auf sich beruhen lassen, aussitzen und in bewährter Manier auf Zeit spielen. Ob sie nun für ihn sind oder gegen ihn, eines haben die Israelis in drei Jahrzehnte­n gelernt: Wer „Bibi“Netanjahu vorzeitig abschreibt, hat schon verloren. Verdient hätte er das politische Aus jedoch allemal.

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