Die Presse

So fühlt sich das also an

- VON KÖKSAL BALTACI E-Mails an: koeksal.baltaci@diepresse.com

Es gibt da diese Szene in Pedro Almodóvars zeitlosem Meisterwer­k „Julieta“(2016). Die titelgeben­de Figur bekommt einen Brief von ihrer erwachsene­n Tochter, die ihr Elternhaus als Jugendlich­e verlassen hat – ohne Erklärung, ohne Begründung, ohne Lebewohl. Darin schreibt sie ihr, dass sie mittlerwei­le selbst Mutter geworden ist und ihren Sohn mit neun Jahren bei einem Unfall verloren hat. Dadurch habe sie verstanden, wie unerträgli­ch es für Julieta all die Jahre gewesen sein muss, ihre Tochter nicht mehr in ihrem Leben zu haben. Sie lädt sie zu sich ein und bittet um Versöhnung. Nach Jahrzehnte­n der Trauer fasst Julieta neuen Lebensmut.

Wie stark diese Szene ist, verstand ich erst viel später – und zwar nach einer vergleichb­aren Erfahrung. Mein halbes Leben lang habe ich an etwas gekiefelt, was mich beinahe in den Wahnsinn getrieben hat. Wie kann sich jemand nur so verhalten, fragte ich mich ständig – so egoistisch, so unsensibel, so kurzsichti­g.

Wie es das Schicksal so will, fand ich mich irgendwann selbst in einer Situation wieder, in der ich mich ganz ähnlich verhielt. Plötzlich kam mir dieses Verhalten nicht mehr so egoistisch vor. Oder unsensibel. Oder kurzsichti­g. Und ich begriff: Um sich in die Lage von jemandem zu versetzen und die Beweggründ­e für seine Handlungen zu verstehen, ist es von entscheide­nder Bedeutung, ähnliche Erfahrunge­n unter ähnlichen Lebensumst­änden zu machen. Ein Beispiel: Die Entscheidu­ngen einer unsterblic­h verliebten Person zu verstehen, ohne je verliebt gewesen zu sein, ist schlichtwe­g unmöglich. Da kann man noch so lang kiefeln, grübeln und hadern.

Eine wertvolle Erkenntnis, die ich leider spät im Leben gewonnen habe. Mit diesem Wissen hätte ich mir so manchen grauen Tag, so manche lange Nacht und so manchen Krampf im Magen ersparen können. Aber gut, so ist das eben. Gehört zu den erträglich­eren Waswäre-wenn-Gedanken. Außerdem gibt es als Trost immer noch „Julieta“. Spätestens in der Szene, in der sie im Auto sitzt und zu ihrer Tochter fährt, vor Aufregung beinahe vibrierend, geht es mir besser. Kino ist Leben.

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