Wenn Opa seine Träume ausplaudert
Johann Schlemihl, der Großvater des Erzählers in László Végels Roman „Balkanschönheit oder Schlemihls Bastard“, ist ein Mann, der bloß versucht, über die Runden zu kommen. Ort des Geschehens ist eine Stadt in der Vojvodina – seit jeher ein Zankapfel zwischen Ungarn und Serben.
Der Texter in der Werbung ist meist für die Schändung der Muttersprache verantwortlich, der an Logorrhöe erkrankte Zutexter für seinen abundanten Redefluss. Sonst wohl vereinsamt in den Ödnissen des Internets verharrend, beschwatzen solche Leute unerbittlich jeden Menschen, dessen sie habhaft werden können. Meist geht es dabei um irrelevanten Tratsch oder die Weitergabe abgestandener Witze. Meist passiert derlei Lokalgästen, wenn zwei Stunden vor der Sperrstunde ein angeheiterter Gast das Lokal betritt und die Theke ansteuert.
Doch damit gibt sich der Ich-Erzähler im Roman „Balkanschönheit oder Schlemihls Bastard“von László Végel nicht zufrieden: Das ganze Leben muss es sein! Und nicht nur sein eigenes, auch das seines verehrten Opas. Ort des Geschehens ist eine an Novi Sad erinnernde Stadt in der Vojvodina – seit jeher ein Zankapfel zwischen Ungarn und Serben, in der die Herrschaft im 20. Jahrhundert oft wechselte, dazu gibt es einige deutschsprachige und jüdische Menschen.
Anfangs noch zur Habsburger Monarchie gehörig, nach dem Ersten Weltkrieg Teil des neu entstandenen jugoslawischen SHS-Staates, im Zweiten von den mit NS-Deutschland verbündeten Ungarn kontrolliert, die dann von Partisanen vertrieben wurden, ehe der jugoslawische Staat nach dem Tod von Marschall Tito wieder in seine Einzelstaaten zerbröselte. Mit dem Namen der gerade Herrschenden änderte sich auch der Name der einzelnen Menschen. So wurde etwa aus dem Opa Johann Schlemihl ein János Slemil, der als Jovan Slemil starb.
Schlemihl – diesen Namen kennen noch manche aus einem Märchen des romantischen Autors Adalbert von Chamisso. Darin verkauft die Titelfigur, ein armer Teufel, seinen Schatten dem wirklichen, der wieder einmal auf Seelenfang ist. Der Name stammt aus dem Jiddischen und meint ungeschickte Person, Pechvogel, Narr.
Doch Johann Schlemihl, der Opa des Erzählers, ist kein Narr, sondern ein Mann, der versucht, in wechselnden Situationen über die Runden zu kommen. Mit zehn Jahren Waise geworden, arbeitete er erst als Schweinehirt und Gärtner, half bei einem Krämer aus, glänzte in der Schule mit guten Noten und wurde dank seiner Geschicklichkeit Lehrling beim Schlossermeister Schwarz, in dessen Adoptivtochter Hilde er sich Jahre später verlieben und sie heiraten würde. Doch das Glück währte nicht lange, auch wenn Hilde ihm die Tochter Erika gebar. Nach dem Ersten Weltkrieg übersiedelte Meister Schwarz mit Frau und Hilde nach Wien. Sie sprachen dabei von einer baldigen Rückkehr, inzwischen solle Johann das Geschäft kommissarisch weiterführen. So blieb er mit seiner kleinen Tochter Erika allein zurück in Novi Sad. Und passte auf, dass alles so blieb, wie es war. Die Zeitläufte eröffneten ihm ein neues Geschäftsfeld. Denn: Endet der Krieg mit seinen Waffen, kommt die Zeit der neuen Wappen! Die begüterte Oberschicht will damit ihr Eh-schon-immer-Serbentum zeigen, und keiner produzierte Wappen so gekonnt wie der Johann-Opa, erzählt Enkel Ferenc/Franz/Franjo dem „schönen Fräulein Laura Rottenbiller“, einer von den Männern umschwärmten Kellnerin und Sängerin im benachbarten Hotel Luxor.
Laura ist die zweite Balkanschönheit, die uns der Buchtitel verspricht, beginnen wir aber mit der ersten: Ivana – die serbische Kellnerin, die nach der Niederlage Habsburgs mit den serbischen Siegern kam, und um die bald die Notabeln der Region herumschwirrten wie die Motten ums Licht. Doch just zum Opa fasste die Diva Vertrauen, weil der ihr das Fahrradfahren beibrachte, womit sie Wien wieder erreichen wollte. 1914 hatte sie die Malerin Barbara nach Wien gebracht, um von ihr Aktbilder zu malen, die in Ausstellungen für Furore sorgten. Doch Ivana blieb weiter in Novi Sad und wurde Leiterin der Post – was dem Opa sehr missfiel, hatte ihm doch einst im Traum Kaiser Franz Joseph versprochen, dass Tochter Erika dafür vorgesehen sei. Doch Ivana verschaffte ihm ein Zubrot: Er wurde für die Sicherheit und Reparaturen angestellt. Das verschaffte ihm monatlich 100 Dinare, aber auch Neid und Zorn der verbliebenen Ungarn, die in ihm nun einen Verräter sahen.
Man muss ehrlich sagen, dass den Opa nie sein Handeln in Troubles brachte, sondern seine Träume – die er in seinem Redezwang oft ausplauderte. Etwa dass nicht nur der alte Kaiser Franz Joseph ihm die Poststelle für die Erika versprochen habe, sondern auch Ungarns Reichsverweser Miklós Horthy, ja sogar Adolf Hitler, dessen Stimme Erika so gern im Radio hörte, und Josef Stalin. Als dieser 1945 sein Versprechen nicht hält, nennt ihn der Opa vor Nachbarn einen Lügner, was ihm eine Verhaftung einbringt. Gerettet hat ihn damals, dass er dem neuen Ortschef Svetozar im Verhör seine ganze Vita erzählte.
In Österreich würde der im Jahr 1941 in der Vojvodina als Angehöriger der ungarischen Minderheit geborene László Végel – er lebt schon lange in Ungarn – für seinen blumigen Schelmenroman von Boulevord und Krawallparteien als übler Nestbeschmutzer, wenn nicht gar Staatsfeind angefeindet. Denn in seinen ausufernden Geschichten, über die hier nur zu einem kleinen Teil die Rede war, entlarvt er Opportunismus, Gier, Wankelmütigkeit, Egoismus und Wut der „kleinen Leute“, die an Bösartigkeit den „großen“nicht nachstehen wollen.
Neben der Schilderung kauziger Figuren sorgt der Autor auch für kleine Gags. Über den aufschäumenden ungarischen Nationalismus in der Zwischenkriegszeit – man hatte im Friedensvertrag von Trianon nicht nur die Slowakei an die Tschechen, das Burgenland an Österreich und Siebenbürgen an Rumänien „verloren“– könnte ein Autor Seiten füllen. Végel begnügt sich mit einer knappen Erwähnung eines „Revisions-Liederwettbewerbs 1932“zur moralischen Stärkung des Madjarentums.
Das Buch endet mit seinem Beginn. Als die Svetozar-Tochter Olga ihn bittet, etwas über den Opa zu berichten, kann der Enkel erneut loslegen. Zuerst nur Teile des ersten Absatzes. Aber: „Ab und an unterbrach ich meine Rede, verstummte für kurze Zeit und horchte auf Olgas gleichmäßige Atemzüge. Ich höre dir zu, sagte sie plötzlich. Und ich sprach weiter . . .“