Wie die Schüsse auf Geiseln den Kriegsverlauf verändern könnten
Die Tötung dreier Geiseln durch Israels Soldaten setzt die Regierung Netanjahu unter zusätzlichen Druck.
Tel Aviv. Irgendwo zwischen den Trümmern des Schlachtfelds, das einmal das ShejaiyaViertel von Gaza-Stadt gewesen war, tauchten sie plötzlich auf: drei junge Männer, die Oberkörper nackt, die Hände erhoben, einer ein weißes Stück Stoff schwenkend. Ein israelischer Soldat soll die drei trotzdem für eine Bedrohung gehalten haben. Was in den Sekunden danach geschah, quält seitdem die israelische Gesellschaft: „Terroristen“, brüllte der Soldat, zielte und schoss.
Erst später bemerkten die Truppen ihren furchtbaren Fehler: Sie hatten drei israelische Männer getötet, zwei Juden, einen muslimischen Beduinen. Drei der Geiseln, deren Befreiung eines der Ziele ist, wofür die Soldaten in diesen Krieg gezogen sind.
Armeechef Herzi Halevi übernahm am Wochenende die Verantwortung für den Fehler und versuchte zugleich, ihn zu erklären: Seine Soldaten hätten zuvor immer wieder „Terroristen in ziviler Kleidung konfrontiert“, die versucht hatten, die Truppen zu täuschen. Israelische Medien hatten kurz zuvor berichtet, die Hamas nutze Babypuppen und Aufnahmen von Kinderstimmen, um Soldaten in Hinterhalte zu locken. Kritiker sehen den Vorfall dennoch als weiteren Beleg dafür, dass die Armee, die IDF, zu wenig Rücksicht auf Unschuldige nehme. Zugleich befeuert der Fehler auch innerhalb des Landes die Debatte um den Fortgang der Kämpfe.
Netanjahu bleibt hart
Premier Benjamin Netanjahu äußerte Bedauern und wiederholte zugleich: Nur eine Fortführung des Krieges, nur militärischer Druck könnten zur Freilassung der verbliebenen Geiseln führen. Wie lang er und seine Regierung bei dieser Linie bleiben können, steht jedoch zunehmend in Zweifel.
Schon seit Wochen fordert die US-Regierung, Israels wichtigster und bei Weitem einflussreichster Verbündeter, die Intensität der Kämpfe im Gazastreifen zu reduzieren und mehr für den Schutz der Zivilisten zu tun. Auch mehrere EU-Länder erhöhen den Druck. Frankreichs Außenministerin, Catherine Colonna, forderte bei ihrem Israel-Besuch „eine sofortige humanitäre Waffenruhe im Gazastreifen“.
Dazu gerät Israels Regierung zunehmend von einer zweiten Seite unter Druck: von innen. Die Familien der Entführten, die sich schon früh nach dem Terrorangriff vom 7. Oktober organisierten, drängen die Regierung seit Wochen dazu, der Befreiung der verbliebenen rund 120 Geiseln höhere Priorität einzuräumen – und sich in Verhandlungen mit der Hamas offen für eine neuerliche Feuerpause zu zeigen. Die fatalen Schüsse verleihen ihrer Kampagne eine neue Dringlichkeit. „Mit jedem Tag, der vergeht, schrumpft die Liste der Geiseln“, rief Danielle Aloni, die während der Feuerpause Ende November aus Gaza befreit wurde, am Samstagabend auf der wöchentlichen Demo der Geisel-Familien in Tel Aviv.
Die Demonstrationen der Geisel-Angehörigen finden jeden Samstagabend statt, ebenso wie Massenproteste gegen die geplante Justizreform in den Monaten vor dem Terrorangriff. Weder Anlass noch Teilnehmerzahlen lassen sich zwar miteinander vergleichen, dennoch liegt in dem Anliegen der Familien genügend emotionale Spannung, um die erste große politische Kontroverse seit Kriegsbeginn zu begründen. Die politischen Lager haben sich bereits in Stellung gebracht: Während Netanjahu, seine Verbündeten und Anhänger darauf pochen, unbeirrt weiterzukämpfen, drängen seine Gegner auf Verhandlungen und Kompromissbereitschaft.
„Der Vorfall könnte die öffentliche Unterstützung für den Krieg schwächen“, sagte der Kriegshistoriker Danny Orbach von der Hebräischen Universität zur „Presse“. Zwar glaubt er nicht, dass der Tod der drei Geiseln und der Schock, den dieser ausgelöst hat, genug Wirkung entfalten könnten, um die Regierung zu einem Einstellen der Kämpfe zu bewegen. Den Krieg zu beenden, ohne die selbst gesetzten Ziele zu erreichen – die Zerstörung der Hamas in Gaza und die Befreiung der übrigen Geiseln –, würde die Regierung politisch nicht überleben, meint er. „Aber wenn es weitere solche Vorfälle gibt – wer weiß.“Um das zu verhindern, müsse die Armee die Schussdisziplin ihrer Truppen verbessern. „Das kann die einzige Lehre aus diesem Fehler sein.“
Israel öffnet Grenzübergang
Indes öffnete Israel am Sonntag den Grenzübergang Kerem Shalom für Hilfslieferungen in den Gazastreifen. Durch die Öffnung im Südosten des Gazastreifens nahe der Grenze zu Ägypten soll die tägliche Menge an humanitärer Hilfe, die in das Gebiet gelangt, erhöht werden, hieß es. Das hatten auch die USA gefordert.