Willkommen im Zeitalter der höflichen Schutzgelderpresser
Unabhängig davon, ob die Freigabe der EU-Gelder für Ungarn berechtigt ist oder nicht, ist die Optik der Kommissionsentscheidung fatal.
Haben wir es hier mit einem Erpressungsversuch zu tun, einem Kuhhandel oder bloß mit einem Zufall? Faktum ist jedenfalls, dass die Europäische Kommission just am Vorabend des EUGipfels, bei dem es um Geld und eine Beitrittsperspektive für die Ukraine geht, der ungarischen Regierung einen halben Persilschein ausgestellt hat – jener ungarischen Regierung, die seit Wochen mit dem Veto in der Ukraine-Frage droht. Geht es nach den Ausführungen der Brüsseler Behörde, dann hat sich Premier Viktor Orbán jene zehn Milliarden Euro, die nun nach Budapest überwiesen werden sollen, redlich verdient, indem er eine Justizreform in die Wege leiten ließ, die es Richtern ermöglichen soll, sich mit Anliegen direkt an den Europäischen Gerichtshof zu wenden. Für die Kritiker der Entscheidung handelt es sich dabei um den Kniefall vor einem illiberalen Schutzgeldeintreiber, dessen Ausgang obendrein ungewiss ist, denn am Folgetag der Bekanntgabe zeigte sich Orbán nach wie vor uneinsichtig: „Es gibt keinen Grund, jetzt mit der Ukraine zu verhandeln“, sagte er bei seiner Ankunft in Brüssel.
Sachlich begründete Entscheidung oder blamabler Kniefall – was stimmt nun? Auf definitive Klarstellung werden wir im Brüsseler Nebel vergeblich warten. Dass die von der Kommission beanstandeten Schwachstellen im ungarischen Justizwesen per Gesetzesveröffentlichung im Amtsblatt repariert wurden, steht außer Zweifel – wobei sich erst zeigen muss, wie die Sache in der Praxis gehandhabt wird. Der Zeitpunkt der Kommissionsentscheidung und die Tatsache, dass Ratspräsident Charles Michel unmittelbar darauf zu Orbán gepilgert ist, deuten allerdings auf eine choreografierte Absicht hin, die Ungarn um (fast) jeden Preis davon abzubringen, das letzte reguläre Treffen der EU-Staats- und -Regierungschefs in diesem Jahr entgleisen zu lassen.
So oder so ist die Optik verheerend – denn unabhängig von den Tatsachen kann (und wird) die Ungarn-Episode wohl als Einladung verstanden werden, die Union um sachliche Gefallen zu ersuchen – mit höflicher Stimme und mit Verweis auf berechtigte nationale Interessen, aber unter impliziter Androhung negativer Folgen für das europäische Gemeinwohl im Fall einer Nichterfüllung der eigenen Wünsche. Wer die Schuld für diese politische Verrohung einzig Orbán in die Schuhe schieben will, macht es sich allerdings zu leicht. Denn seit geraumer Zeit lässt sich bei den EU-Mitgliedern die beunruhigende Tendenz beobachten, mit (mehr oder weniger) sanftem Druck eigene Interessen vollumfänglich durchsetzen zu wollen. Das war für Frankreich bei der Klassifizierung der Kernkraft als nachhaltige Energiequelle der Fall und bei Deutschland (und Österreich) bei der EFuel-Ausnahme beim avisierten Ausstieg aus Verbrennungsmotoren.
Machen diese Beispiele Schule (wovon leider auszugehen ist), droht Europa auf längere Sicht die Selbstausschaltung. Das Problem der EU ist, dass sie in Teilbereichen nach dem in Großbritannien unter dem Begriff „Good chap theory of government“bekannten Prinzip operiert. Dabei handelt es sich um die Überzeugung, dass gesicherte Spielregeln und praktikable Sanktionsmöglichkeiten nicht notwendig seien, weil in der Politik nur grade Michel am Werk seien, die auf Fair Play achten und sich in Konfliktsituationen nobel zurücknehmen würden, anstatt ihre Gegenüber zu überfahren.
Diese Theorie hat die Belastungsprobe nicht bestanden – weder in Großbritannien selbst (siehe Brexit und dessen Folgen) noch in Europa. Denn erstens sind die Zeiten härter geworden, was zum Denken in der Kategorie des Nullsummenspiels anregt, und zweitens sind mit Orbán, Donald Trump, Jarosław Kaczyński oder Recep Tayyip Erdoğan nun Figuren am Zug, die man selbst beim besten Willen nicht als Polit-Gentlemen bezeichnen kann.
Da eine liberale Zeitenwende nicht in Sicht ist, werden die nächsten Jahre wohl oder übel ruppiger werden. Die EU-Mitglieder werden sich darauf einstellen müssen, manche Entscheidungen außerhalb der Unionsstrukturen zu treffen, um die Spielräume für Erpresser klein zu halten. Wie die Causa Ukraine verdeutlicht, wird das nicht immer möglich sein.