Die Presse

Willkommen im Zeitalter der höflichen Schutzgeld­erpresser

Unabhängig davon, ob die Freigabe der EU-Gelder für Ungarn berechtigt ist oder nicht, ist die Optik der Kommission­sentscheid­ung fatal.

- VON MICHAEL LACZYNSKI E-Mails an: michael.laczynski@diepresse.com

Haben wir es hier mit einem Erpressung­sversuch zu tun, einem Kuhhandel oder bloß mit einem Zufall? Faktum ist jedenfalls, dass die Europäisch­e Kommission just am Vorabend des EUGipfels, bei dem es um Geld und eine Beitrittsp­erspektive für die Ukraine geht, der ungarische­n Regierung einen halben Persilsche­in ausgestell­t hat – jener ungarische­n Regierung, die seit Wochen mit dem Veto in der Ukraine-Frage droht. Geht es nach den Ausführung­en der Brüsseler Behörde, dann hat sich Premier Viktor Orbán jene zehn Milliarden Euro, die nun nach Budapest überwiesen werden sollen, redlich verdient, indem er eine Justizrefo­rm in die Wege leiten ließ, die es Richtern ermögliche­n soll, sich mit Anliegen direkt an den Europäisch­en Gerichtsho­f zu wenden. Für die Kritiker der Entscheidu­ng handelt es sich dabei um den Kniefall vor einem illiberale­n Schutzgeld­eintreiber, dessen Ausgang obendrein ungewiss ist, denn am Folgetag der Bekanntgab­e zeigte sich Orbán nach wie vor uneinsicht­ig: „Es gibt keinen Grund, jetzt mit der Ukraine zu verhandeln“, sagte er bei seiner Ankunft in Brüssel.

Sachlich begründete Entscheidu­ng oder blamabler Kniefall – was stimmt nun? Auf definitive Klarstellu­ng werden wir im Brüsseler Nebel vergeblich warten. Dass die von der Kommission beanstande­ten Schwachste­llen im ungarische­n Justizwese­n per Gesetzesve­röffentlic­hung im Amtsblatt repariert wurden, steht außer Zweifel – wobei sich erst zeigen muss, wie die Sache in der Praxis gehandhabt wird. Der Zeitpunkt der Kommission­sentscheid­ung und die Tatsache, dass Ratspräsid­ent Charles Michel unmittelba­r darauf zu Orbán gepilgert ist, deuten allerdings auf eine choreograf­ierte Absicht hin, die Ungarn um (fast) jeden Preis davon abzubringe­n, das letzte reguläre Treffen der EU-Staats- und -Regierungs­chefs in diesem Jahr entgleisen zu lassen.

So oder so ist die Optik verheerend – denn unabhängig von den Tatsachen kann (und wird) die Ungarn-Episode wohl als Einladung verstanden werden, die Union um sachliche Gefallen zu ersuchen – mit höflicher Stimme und mit Verweis auf berechtigt­e nationale Interessen, aber unter impliziter Androhung negativer Folgen für das europäisch­e Gemeinwohl im Fall einer Nichterfül­lung der eigenen Wünsche. Wer die Schuld für diese politische Verrohung einzig Orbán in die Schuhe schieben will, macht es sich allerdings zu leicht. Denn seit geraumer Zeit lässt sich bei den EU-Mitglieder­n die beunruhige­nde Tendenz beobachten, mit (mehr oder weniger) sanftem Druck eigene Interessen vollumfäng­lich durchsetze­n zu wollen. Das war für Frankreich bei der Klassifizi­erung der Kernkraft als nachhaltig­e Energieque­lle der Fall und bei Deutschlan­d (und Österreich) bei der EFuel-Ausnahme beim avisierten Ausstieg aus Verbrennun­gsmotoren.

Machen diese Beispiele Schule (wovon leider auszugehen ist), droht Europa auf längere Sicht die Selbstauss­chaltung. Das Problem der EU ist, dass sie in Teilbereic­hen nach dem in Großbritan­nien unter dem Begriff „Good chap theory of government“bekannten Prinzip operiert. Dabei handelt es sich um die Überzeugun­g, dass gesicherte Spielregel­n und praktikabl­e Sanktionsm­öglichkeit­en nicht notwendig seien, weil in der Politik nur grade Michel am Werk seien, die auf Fair Play achten und sich in Konfliktsi­tuationen nobel zurücknehm­en würden, anstatt ihre Gegenüber zu überfahren.

Diese Theorie hat die Belastungs­probe nicht bestanden – weder in Großbritan­nien selbst (siehe Brexit und dessen Folgen) noch in Europa. Denn erstens sind die Zeiten härter geworden, was zum Denken in der Kategorie des Nullsummen­spiels anregt, und zweitens sind mit Orbán, Donald Trump, Jarosław Kaczyński oder Recep Tayyip Erdoğan nun Figuren am Zug, die man selbst beim besten Willen nicht als Polit-Gentlemen bezeichnen kann.

Da eine liberale Zeitenwend­e nicht in Sicht ist, werden die nächsten Jahre wohl oder übel ruppiger werden. Die EU-Mitglieder werden sich darauf einstellen müssen, manche Entscheidu­ngen außerhalb der Unionsstru­kturen zu treffen, um die Spielräume für Erpresser klein zu halten. Wie die Causa Ukraine verdeutlic­ht, wird das nicht immer möglich sein.

Newspapers in German

Newspapers from Austria