Die Presse

Israels Armee hat mit der umstritten­en Maßnahme begonnen und pumpt Meerwasser in das Tunnelsyst­em der Terrororga­nisation Hamas – angeblich ein Testlauf. Israel flutet Hamas-Tunnel

- VON MAREIKE ENGHUSEN (TEL AVIV) UND IRENE ZÖCH [Reuters / Ronen Zvulun]

Nun ist es also soweit: Die israelisch­e Armee hat begonnen, das Tunnelsyst­em der Hamas zu fluten. Es soll sich vorerst um einen Testlauf handeln. Dazu werde Meerwasser in einige Tunnel gepumpt, um herauszufi­nden, ob sich die Methode zur großflächi­gen Zerstörung des unterirdis­chen Systems eigne. Das berichten die Zeitung „Wall Street Journal“sowie der Nachrichte­nsender CNN unter Berufung auf US-Beamte, die mit der Angelegenh­eit vertraut sind.

Israel habe den USA mitgeteilt, dass nur Tunnel geflutet würden, in denen keine Geiseln vermutet werden. Denn das war einer der großen Knackpunkt­e: Was, wenn in den Tunneln die noch mindestens 136 israelisch­en Geiseln von der Hamas festgehalt­en werden, deren Leben es unter allen Umständen zu schützen gilt?

Zuletzt hatte Israels Generalsta­bschef Herzi Halevi die Überlegung, das ausgedehnt­e Tunnelsyst­em mit Meerwasser zu fluten, als „gute Idee“bezeichnet. Zu der Befürchtun­g, das Leben der Geiseln aufs Spiel zu setzen, hat sich die Armee freilich aus taktischen Gründen nie konkret geäußert, Israel hat sich immer sehr bedeckt dazu gehalten, wo sich Geiseln aufhalten könnten und welche Kenntnis das Militär dazu habe. US-Präsident Joe Biden meinte dazu in der Nacht auf Mittwoch, dass „jeder Tod von Zivilisten eine absolute Tragödie“sei. Und niemand könne mit Sicherheit behaupten, dass sich keine Geiseln in diesen Tunnel befinden würden.

Israel will Krieg fortsetzen

Israel gerät aufgrund seines Vorgehens in Gaza immer mehr in die Kritik: Außenminis­ter Eli Cohen meinte dazu am Mittwoch, dass Israel den Krieg gegen die militante Hamas auch ohne internatio­nale Unterstütz­ung fortsetzen würde und lehnt eine Waffenruhe zum gegenwärti­gen Zeitpunkt ab. „Israel wird den Krieg gegen die Hamas mit oder ohne internatio­nale Unterstütz­ung fortsetzen“, erklärte Cohen. „Ein Waffenstil­lstand in der jetzigen Phase ist ein Geschenk an die Terrororga­nisation Hamas und wird es ihr ermögliche­n, zurückzuke­hren und die Bewohner Israels zu bedrohen.“

Israels Offensive ging am Mittwoch weiter: Kampfjets beschossen erneut Teile des dicht besiedelte­n Küstengebi­ets. Heftige Gefechte am Boden wurden aus dem Süden ebenso wie aus dem Norden gemeldet. Das Militär teilte mit, binnen 24 Stunden seien zehn Soldaten getötet worden. Die meisten kamen laut einem Bericht des Armee-Rundfunks bei einem Einsatz in Gaza-Stadt ums Leben, darunter auch zwei hochrangig­e Offiziere. In der südlich gelegenen Stadt Chan Junis stießen die israelisch­en Panzereinh­eiten nach Darstellun­g von Anwohnern auf Widerstand. Im Stadtzentr­um toben starke Kämpfe.

„Tunnel sind wie Venen“

Eines der schwierigs­ten Probleme für die israelisch­e Armee ist tatsächlic­h das Tunnelsyst­em der Hamas. 500 und mehr Kilometer Gesamtläng­e soll es haben, das gesamte Territoriu­m der Küstenenkl­ave umspannen und den Terroriste­n als Versteck und Lagerraum dienen.

Die militärisc­he Bedeutung der Tunnels für die Hamas könne man gar nicht hoch genug einschätze­n, sagt Sicherheit­sexperte Avi Bitzur, Leiter des Programms für nationale Sicherheit und Verteidigu­ng der Heimatfron­t am Beit-Berl-Kolleg nördlich von Tel Aviv gegenüber der „Presse“: „Die Tunnels sind für die Hamas so wichtig wie Venen für den menschlich­en Körper.“

Schon Anfang November hat die israelisch­e Armee Hochleistu­ngspumpen in der Nähe des Flüchtling­slagers Al-Schati im Norden des Gazastreif­ens am Mittelmeer installier­t. Mit diesen mindestens fünf Pumpanlage­n könnte das Militär Tausende Kubikmeter Meerwasser pro Stunde in die Tunnels befördern und die Terroriste­n damit an die Oberfläche zwingen.

Wasserexpe­rten sehen eine mögliche Flutung skeptisch. Das Meerwasser könnte in das Grundwasse­r des Gazastreif­ens eindringen. Schon vor Jahren erreichten 97 Prozent des Grundwasse­rs in Gaza nicht den Mindeststa­ndard der Weltgesund­heitsorgan­isation. Seit Beginn des Krieges ist die Wasservers­orgung noch prekärer geworden: Weil Israel sich gegen die Lieferunge­n von Treibstoff stemmt aus Sorge, die Hamas könnte diesen für militärisc­he Zwecke missbrauch­en, fehlt Strom für Entsalzung­sanlagen und Pumpen. Die Wasserlief­erungen, die über den ägyptische­n Grenzüberg­ang Rafah nach Gaza gelangen, reichen Hilfsorgan­isationen zufolge bei Weitem nicht aus.

Armee in Tunnel-Dilemma

Der Sicherheit­sexperte Avi Bitzur sieht die Flutung als eine von fünf möglichen Taktiken, gegen die Tunnel vorzugehen. So könnten Soldaten in die Gänge eindringen, wie US-Truppen es im Vietnamkri­eg getan haben. Dies sei jedoch wegen der räumliche Enge erwiesener­maßen eine hochriskan­te Taktik, sagt Bitzur der „Presse“. Alternativ könnte die Armee die Tunnel bombardier­en, mit Bulldozern zerstören oder die Eingänge verschließ­en und die Terroriste­n dadurch aushungern. Doch auch diese Vorgehensw­eisen könnte Geiseln gefährden.

Es ist ein Dilemma, das sich kaum lösen lässt, so lange sich die Entführten in Gaza befinden. Zugleich steht fest: Will Israel die Hamas zerschlage­n, muss die Armee eine Lösung für die Tunnel finden.

 ?? ?? Israelisch­e Soldaten in einem Hamas-Tunnel unterhalb des Al Shifa-Krankenhau­ses in Gaza-Stadt.
Israelisch­e Soldaten in einem Hamas-Tunnel unterhalb des Al Shifa-Krankenhau­ses in Gaza-Stadt.

Newspapers in German

Newspapers from Austria