Scheinwerfer auf die da im Dunkeln
Die Ausgegrenzten im Fokus: Hans Ostwalds Sammlung „Lieder aus dem Rinnstein“aus dem 19. Jahrhundert, in neu edierter Fassung.
Der Kaiser ist schuld. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. Er erhob angesichts der pädagogischen Besorgnis über zu viel notorischen Schmutz und Schund eine „Kunst, die erhebt, statt dass sie in den Rinnstein niedersteigt“. Die Worte sprach er zu einem für den ästhetischen Diskurs entscheidenden Zeitpunkt. Just damals hatte sich ja die deutsche Literatur – denken wir an die Dramatiker Gerhart Hauptmann oder Frank Wedekind – gerade erst konsequent von den hehren Sujets abgewendet und ihre Blicke an die Ränder der Gesellschaft schweifen lassen.
Der Journalist Hans Ostwald (1873 bis 1940) begann dann die Lieder und Gedichte zu sammeln, die „dort unten“bei den Menschen entstanden. Er machte ein Buch daraus, dem er konsequenterweise den sozusagen kaiserlich privilegierten Namen „Lieder aus dem Rinnstein“gab. Das publizistische Wagnis zeitigte ungeahnte Folgen. Denn Ostwalds nach dem Erfolg der Ausgabe ergangene Aufforderung, man möge ihm doch Material für einen weiteren Band zukommen lassen, führte zu einer wahren Flut an Einsendungen. Es zeigte sich: Die da im Dunkeln, die hatten durchaus Lust, auch einmal zumindest um die Ecke zu lugen, ins Scheinwerferlicht.
Drei „Rinnstein“-Bände sind auf diese Weise herausgekommen. Heiner Boehncke und Hans Sakrowicz haben die besten Seiten ausgewählt, um für die „Andere Bibliothek“eine neue Edition zu erstellen, um einige erotische Lieder angereichert, die Ostwald gesondert herausgebracht hatte.
Aus dem Land der Reime
Der rundum erneuerte Band übernimmt damit Ostwalds bemerkenswerte Dramaturgie, die schon seinerzeit nicht davor zurückschreckte, die einfallsreichen Hobbydichter in hochmögende Gesellschaft zu stellen. Tatsächlich reicht das „Rinnstein“-Repertoire von den mittelalterlichen Carmina burana über große Namen wie Goethe oder Schiller und die artifizielle Volkstümlichkeit der Gedichte aus „Des Knaben Wunderhorn“bis hin zu jenen echten Vagabunden-Gedichten, die Ostwald nach seiner HandwerkerLehre „auf der Walz“kennen- und lieben gelernt hat.
Der Kern der Sammlung stammt in der Tat von den Ausgestoßenen und Ausgegrenzten, von Arbeitslosen und Bettlern, von Prostituierten und jenen „vazierenden Handwerkergesellen“, wie sie hierzulande schon Nestroy auf die Theaterbühne geholt hat. Ostwald war einer der ihren und hat ihnen abgelauscht, wie ihnen wirklich der Schnabel gewachsen war.
Besungen wurden, wie könnte es im Land der Verse und Reime anders sein, auch Liebe und Treue – und deren Gegenteil, versteht sich, aber auch tatsächlich das Elend der armen Leut’. Und das nicht selten auf einem Niveau, dass – wie Karl Kraus einmal so schön gesagt hat – die „Hintertreppenpoesie zur Poesie der Hintertreppe“wurde. Die jüngere Literatur konnte da anknüpfen – und angesichts dessen, was heutige Literaturkritik oft als wahrhaftig und zumutbar preist, muss vor dieser Rinnstein-Poesie keinem Wilhelm mehr grausen.