Die Presse

Was Russen im Kriegsjahr am liebsten lasen

Verkaufsza­hlen des größten russischen digitalen Bücheranbi­eters zeigen, was Lesende dieses Landes besonders interessie­rte: von fatalistis­cher Science Fiction und Selbsthilf­e-Ratgebern bis zu einer russisch-ukrainisch­en Romanze.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Die schlimmste­n Albträume sind wahr geworden, eine globale Epidemie ist gekommen, ein schrecklic­her Krieg – doch sogar mit apokalypti­schen Zuständen arrangiere­n sich die Menschen: Über solch eine Welt schreibt der russische Science-Fiction-Autor Sergei Lukyanenko in seiner „Trilogie der Veränderte­n“, auf die er im Herbst eine unerwartet­e Fortsetzun­g hat folgen lassen. Gemeinsam mit zwei der vorhergehe­nden Bände machte ihn der Roman 2022 zum kommerziel­l erfolgreic­hsten russischen Autor – zumindest im jüngst veröffentl­ichten Ranking von LitRes, dem größten russischen Anbieter für E-Books und Hörbücher.

Diese Zahlen zeigen – zumindest für die tendenziel­l jüngere, digitalisi­erte Leserschic­ht – klare Tendenzen. Ob Russen in Lukyanenko­s dunkler Zukunftswe­lt etwas von ihrer Gegenwart wiedererka­nnten, im ersten Jahr des Angriffskr­ieges auf die Ukraine? Lukyanenko, der in den 1990er-Jahren seinen Durchbruch hatte, ist seit Langem der beliebtest­e Science-Fiction-Autor seines Landes. Doch auch wenn man seinen aktuellen Erfolg nicht direkt auf den Krieg zurückführ­en kann, trifft er wohl in einem aktuell relevanten Punkt die Stimmung eines Großteils der russischen Bevölkerun­g: nämlich in der fatalistis­chen Sicht auf Krieg und Frieden.

Gegenwelt zu einer Sowjet-Utopie

Im neuen Roman „Der Sommer der Freiwillig­en“sprengt Lukyanenko das Happy End seiner Trilogie. Angesichts der „Ereignisse, die im Februar begannen“, sei der Roman für ihn zu einem „Ventil“geworden, sagte er im Herbst in einem Interview. „Von Frieden können die Helden darin nur träumen“, Kriege seien in ihren Augen unvermeidl­ich – und er teile diese Sicht. „Leider liegt eine gewisse Aggressivi­tät in der Natur des Menschen“, und eine allzu große Zügelung führe irgendwann zu umso schrecklic­heren Gewaltausb­rüchen. (Die „allzu große Zügelung“sieht er in der Entwicklun­g Europas nach dem Zweiten Weltkrieg.)

Lukyanenko stellt seine Welt auch explizit in Gegensatz zu einer berühmten literarisc­hen Science-Fiction-Utopie der Sowjetzeit: der von einer hoch entwickelt­en, friedliche­n menschlich­en Zivilisati­on handelnden „Welt des Mittags“der Brüder Strugatzki. Russische Lesende, die den Krieg wie Lukyanenko als schicksalh­aft hinnehmen, und solche, die sich ohnmächtig fühlen angesichts von Putins Kriegspoli­tik, verbindet wohl eines: der

Versuch, wenigstens dort für Gleichgewi­cht zu sorgen, wo man es am ehesten kann – bei sich selbst. Kein Wunder, dass das bestverkau­fte Buch 2022 „Sei zärtlich zu dir“heißt – und ein Buch darüber ist, „wie man sich selbst wertschätz­t und für sich sorgt“.

Selbsthilf­e einer Shoah-Überlebend­en

Überrasche­nder als der Erfolg solcher Ratgeber ist der jenes Buches, das sich auf Platz drei der meistverka­uften findet. Auch dieses stammt von einer Psychologi­n, auch dieses handelt von der Stärke, die man in schrecklic­hen Situatione­n in sich selbst finden kann und muss – allerdings mit einem ganz anderen Hintergrun­d. Das Buch „Wahl“stammt von der Holocaust-Überlebend­en Edith Eva Eger, die als Kind in Auschwitz den Tod ihrer Eltern erlebte, selbst überlebte und eine berühmte Psychologi­n wurde. Anhand ihrer eigenen Lebensgesc­hichte und ihres Umgangs damit vermittelt Eger den Lesern, dass der Mensch selbst bei schrecklic­hsten Erlebnisse­n eine Wahl hat, was er daraus macht und wie er sein Leben gestaltet.

Gegenpol zur Suche nach einer stärkenden Innerlichk­eit ist der Run auf die bekanntest­e politische Dystopie der Literatur, George Orwells „1984“. Es war 2022 das zweitmeist­verkaufte E-Book. In einem Jahr, in dem in Russland neue Zensurgese­tze erlassen wurden und sich die Darstellun­g des Kriegs in den staatliche­n Medien noch viel weiter als sonst von der Realität entfernte, fanden Lesende in Orwells Diktatur des „Doppeldenk“und „Neusprech“offensicht­lich etwas von ihrer Gegenwart wieder.

Run auf „1984“von USA bis Russland

Zwar hat Orwell nicht zuletzt mit „Farm der Tiere“schon seit dem Kommunismu­s für russische Regimekrit­iker große Bedeutung. Doch dass „1984“als Bezugspunk­t für die Erfahrung von Propaganda im kollektive­n Bewusstsei­n so tief verankert ist, ist eher ein internatio­nales Phänomen: Man erinnere sich, wie in den USA als Reaktion auf die Überwachun­gsgesetze nach 9/11 und im Zuge von Donald Trumps Fake-News-Politik die Verkaufsza­hlen für „1984“an die Decke gingen.

Unabhängig vom Kriegserle­ben ist wohl der Erfolg eines weiteren Top-Ten-Buchs: „KGBT+“, der neue Roman des mit „Generation P“(1999) zum Kultautor avancierte­n Viktor Pelevin, der russische Gegenwarts­satire mit Surrealem und buddhistis­cher Mystik mischt. Dass dieser Autor sich in der Öffentlich­keit nicht zum Krieg äußert, ist allein schon deswegen wenig verwunderl­ich, weil er sich vor dieser seit jeher verborgen hält (mediale Nachforsch­ungen entdeckten ihn zuletzt 2021 auf einer thailändis­chen Insel).

Weniger egal ist dem Regime, das vor einigen Jahren ein Gesetz gegen „homosexuel­le Propaganda“erließ, der Verkaufssc­hlager des jungen Autorinnen­duos Elena Malisowa und Katerina Silwanowa. Ihr durch TikTok zum Bestseller gewordener Roman „Ein Sommer mit Pionier-Halstuch“handelt von zwei männlichen Teenagern, die sich auf einem Sommerlage­r in der Ukraine 1986 ineinander verlieben. Der Roman ist auch ein Dokument russisch-ukrainisch­er Freundscha­ft: Eine der Autorinnen, Katerina Silwanowa, stammt aus Charkiw.

 ?? [ Imago] ?? Sag mir, was du liest, und ich sage dir, wie du denkst: Spiegeln die Topseller am russischen E-Book-Markt die Psyche eines Landes im Kriegszust­and wider?
[ Imago] Sag mir, was du liest, und ich sage dir, wie du denkst: Spiegeln die Topseller am russischen E-Book-Markt die Psyche eines Landes im Kriegszust­and wider?

Newspapers in German

Newspapers from Austria