Was passiert nach dem Krieg?
Der Wiederaufbau nach Russlands Krieg in der Ukraine wird nur dann erfolgreich sein, wenn er global begriffen wird.
Russland Angriffskrieg in der Ukraine erinnert auf gespenstische Weise an den Konflikt, der Europa nach 1914 verheert hat. Der Erste Weltkrieg bereitete die Bühne für darauf folgende Katastrophen. Auch er begann als Krieg, in dem ein Aggressor auf einen schnellen Sieg wettete, auch er entwickelte sich zum umfassenderen Konflikt. Wladimir Putin hat sich mit seiner Annahme verkalkuliert, die USA und EU würden des Konflikts müde werden und Kiew zur Annahme eines demütigenden Friedensschlusses nötigen.
Die westliche Koalition hat bisher bemerkenswert gut gehalten. Der nächste große Test jedoch wird nach dem Krieg kommen: Während eines existenziellen Kampfs akzeptieren alle, dass es Krisenmaßnahmen bedarf. Irgendwann aber muss der Ausnahmezustand enden. Ist dies aber so wie 1920 mit wirtschaftlichem Elend verknüpft, wird es scheitern. Und genau wie der Marshallplan 1948 an ein amerikanisches und europäisches Publikum gerichtet war, sind eine Stärkung der Demokratie und die Wiederherstellung einer echten politischen Vision in Europa genauso nötig wie in der Ukraine. Erster und Zweiter Weltkrieg können hier eine Lehre sein: Die Alliierten „verloren den Frieden“, weil sie es nach 1918 versäumten, auf globaler Ebene über Wiederaufbau nachzudenken.
Oberflächlich betrachtet scheint es heute vernünftig, dass Russland – oder zumindest die Oligarchen aus Putins Kreis – den größten Teil der Rechnung für den Wiederaufbau der Ukraine zahlen sollte. Doch solang Putin an der Macht bleibt, besteht dafür keine Chance. Und würden Russland nach einem Abgang Putins derart immense finanzielle Strafen auferlegt, bestünde die Gefahr, dass sich das Szenario der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wiederholt: Die Vertreter der deutschen Demokratie waren 1919 gezwungen, einen Friedensvertrag zu unterzeichnen, in dem sie die finanzielle Verantwortung für den von Kaiser Wilhelm II. ausgelösten Konflikt übernahmen. Die Weimarer Republik sah sich ständiger Kritik ausgesetzt, sie habe das Land verraten. Ein besserer Kurs ist der nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Marshallplan eingeschlagene Weg.
Der ukrainische Wiederaufbau wird nur erfolgreich sein, wenn er global begriffen wird. Genauso wichtig ist es, die besiegten Mächte zum Eingeständnis zu bewegen, den falschen Weg eingeschlagen zu haben, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, Italien und Japan geschehen ist. Nachdem dort die Maschinerie des Totalitarismus zerschlagen war, profitierten diese Länder in den 1940er- und 1950er-Jahren jeweils von einer Blütezeit des Liberalismus.
Rohstoffabhängigkeit
Ein großes Problem postsowjetischer Staaten ist das dominierende Wirtschaftsmodell des Rohstoffexports, das an seine Grenzen stößt. Können wir hoffen, dass Moskau sich bemüht, dem Ressourcenfluch zu entgehen, der die Entwicklung des Putinismus getragen hat? Ein derartiges Russland würde wohl zur Inspiration für viele Länder werden.
Was die Ukraine angeht, so wird ihre Nachkriegsdynamik nicht vom Wiederaufbau der Infrastruktur abhängen, sondern auch davon, ob das Land seine Abhängigkeit von der Rohstoffförderung abstreifen kann. Zum Glück werden viele der Stärken, die die atemberaubende Verteidigungsleistung gestützt haben, auch zum Wiederaufbau beitragen. Da Kiew bereits vor dem Krieg ein Zentrum der SoftwareEntwicklung war, waren die ukrainischen Programmierer gut aufgestellt, russische Cyberbedrohungen zu eliminieren. Genau die gleichen Fähigkeiten werden benötigt, um eine moderne Volkswirtschaft aufzubauen. Harold James (geb. 1956) ist Professor für Geschichte und internationale Angelegenheiten an der Universität Princeton.