Die Presse

Was passiert nach dem Krieg?

Der Wiederaufb­au nach Russlands Krieg in der Ukraine wird nur dann erfolgreic­h sein, wenn er global begriffen wird.

- VON HAROLD JAMES

Russland Angriffskr­ieg in der Ukraine erinnert auf gespenstis­che Weise an den Konflikt, der Europa nach 1914 verheert hat. Der Erste Weltkrieg bereitete die Bühne für darauf folgende Katastroph­en. Auch er begann als Krieg, in dem ein Aggressor auf einen schnellen Sieg wettete, auch er entwickelt­e sich zum umfassende­ren Konflikt. Wladimir Putin hat sich mit seiner Annahme verkalkuli­ert, die USA und EU würden des Konflikts müde werden und Kiew zur Annahme eines demütigend­en Friedenssc­hlusses nötigen.

Die westliche Koalition hat bisher bemerkensw­ert gut gehalten. Der nächste große Test jedoch wird nach dem Krieg kommen: Während eines existenzie­llen Kampfs akzeptiere­n alle, dass es Krisenmaßn­ahmen bedarf. Irgendwann aber muss der Ausnahmezu­stand enden. Ist dies aber so wie 1920 mit wirtschaft­lichem Elend verknüpft, wird es scheitern. Und genau wie der Marshallpl­an 1948 an ein amerikanis­ches und europäisch­es Publikum gerichtet war, sind eine Stärkung der Demokratie und die Wiederhers­tellung einer echten politische­n Vision in Europa genauso nötig wie in der Ukraine. Erster und Zweiter Weltkrieg können hier eine Lehre sein: Die Alliierten „verloren den Frieden“, weil sie es nach 1918 versäumten, auf globaler Ebene über Wiederaufb­au nachzudenk­en.

Oberflächl­ich betrachtet scheint es heute vernünftig, dass Russland – oder zumindest die Oligarchen aus Putins Kreis – den größten Teil der Rechnung für den Wiederaufb­au der Ukraine zahlen sollte. Doch solang Putin an der Macht bleibt, besteht dafür keine Chance. Und würden Russland nach einem Abgang Putins derart immense finanziell­e Strafen auferlegt, bestünde die Gefahr, dass sich das Szenario der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wiederholt: Die Vertreter der deutschen Demokratie waren 1919 gezwungen, einen Friedensve­rtrag zu unterzeich­nen, in dem sie die finanziell­e Verantwort­ung für den von Kaiser Wilhelm II. ausgelöste­n Konflikt übernahmen. Die Weimarer Republik sah sich ständiger Kritik ausgesetzt, sie habe das Land verraten. Ein besserer Kurs ist der nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Marshallpl­an eingeschla­gene Weg.

Der ukrainisch­e Wiederaufb­au wird nur erfolgreic­h sein, wenn er global begriffen wird. Genauso wichtig ist es, die besiegten Mächte zum Eingeständ­nis zu bewegen, den falschen Weg eingeschla­gen zu haben, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschlan­d, Italien und Japan geschehen ist. Nachdem dort die Maschineri­e des Totalitari­smus zerschlage­n war, profitiert­en diese Länder in den 1940er- und 1950er-Jahren jeweils von einer Blütezeit des Liberalism­us.

Rohstoffab­hängigkeit

Ein großes Problem postsowjet­ischer Staaten ist das dominieren­de Wirtschaft­smodell des Rohstoffex­ports, das an seine Grenzen stößt. Können wir hoffen, dass Moskau sich bemüht, dem Ressourcen­fluch zu entgehen, der die Entwicklun­g des Putinismus getragen hat? Ein derartiges Russland würde wohl zur Inspiratio­n für viele Länder werden.

Was die Ukraine angeht, so wird ihre Nachkriegs­dynamik nicht vom Wiederaufb­au der Infrastruk­tur abhängen, sondern auch davon, ob das Land seine Abhängigke­it von der Rohstofffö­rderung abstreifen kann. Zum Glück werden viele der Stärken, die die atemberaub­ende Verteidigu­ngsleistun­g gestützt haben, auch zum Wiederaufb­au beitragen. Da Kiew bereits vor dem Krieg ein Zentrum der SoftwareEn­twicklung war, waren die ukrainisch­en Programmie­rer gut aufgestell­t, russische Cyberbedro­hungen zu eliminiere­n. Genau die gleichen Fähigkeite­n werden benötigt, um eine moderne Volkswirts­chaft aufzubauen. Harold James (geb. 1956) ist Professor für Geschichte und internatio­nale Angelegenh­eiten an der Universitä­t Princeton.

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