Der große Rückzug von der Piazza Affari
Die italienische Börse verlor im Jahr 2022 sieben Prozent ihres Werts durch Delistings. Wohin zieht es die Konzerne?
Mailand erlebte 2022 eine regelrechte Flucht börsenotierter Unternehmen. Binnen weniger Wochen hatte die italienische Börse 47 Milliarden Euro oder sieben Prozent ihres Gesamtwerts verloren. Zu den größten Namen, die Delistings vornahmen, gehören Exor, Autogrill, AS Roma und Tod’s. Kurz vor Weihnachten wurde die Liste noch mit Atlantia vervollständigt. Insgesamt erfolgten 25 Übernahmeangebote, gefolgt von der Einstellung der Börsennotierung. Einzelne wechselten aber auch nur den Börsenplatz: Exor etwa ist jetzt an der Amsterdamer Börse zu finden.
Die Abwanderung konnte auch nicht mehr durch die erfolgten Börsengänge ausgeglichen werden, dabei kann sich diese Bilanz durchaus sehen lassen: 22 Unternehmen landeten im Segment Euronext Growth Mailand, das damit insgesamt 185 Teilnehmer erreichte. Die Häufung an Delistings befindet sich zwar im Einklang mit dem internationalen Trend, aber warum ziehen sich derzeit so viele Unternehmen von den Börsen zurück?
Buy-back-Boom
Grundsätzlich muss jedes Unternehmen individuell betrachtet werden, aber Delistings nehmen traditionell zu, wenn die Kurse fallen. Das bietet den Unternehmern die Möglichkeit, Aktienrückkaufpläne zu starten oder Unternehmen vom Markt zu nehmen. Der Buy-back-Boom, also die Rückkäufe der eigenen Papiere, konnte auch in Österreich beobachtet werden. So startete etwa der heimische Baukonzern Porr ein Rückkaufprogramm im Ausmaß von bis
zu zehn Millionen Euro. Und Experten von Goldman Sachs hatten weltweite Buy-backs im Umfang von einer Billion Dollar prognostiziert – 2022 offenbarte damit ein Rekordvolumen an Aktienrückkäufen. Diese Art von Abwanderung ist in Zeiten einer Rezession also typisch, aber zurück nach Italien. Woran lag es bei Atlantia? Das italienische Börsenschwergewicht wurde bei seinem Delisting mit 19 Milliarden Euro bewertet.
20 Jahre dauerte die Börsengeschichte des Infrastrukturunternehmens, nun steht eine Neuordnung auf dem Plan – und diese beinhaltet auch das Delisting.
Denn laut den neuen Eigentümern sind dafür langfristige Investitionen nötig, und diese werden von Aktionären nur wenig geschätzt. Großaktionär Edizione, die Holding der Familie Benetton, hatte den Aktionären mit dem USInvestor Blackstone und der Sparkassenstiftung CrT ein Übernahmeangebot über 13 Milliarden Euro unterbreitet. Der Anlass für die Neuordnung Atlantias war der Einsturz der Genueser Au
tobahnbrücke im August 2018, bei dem 43 Menschen zu Tode kamen. Die 88-prozentige Atlantia-Tochter Autostrade per l’Italia (Aspi), zu deren Autobahnnetz die Brücke gehört, trug daran wohl zumindest eine Mitschuld, weil die Brücke nicht richtig gewartet worden war. Auf Druck der Regierung musste Atlantia die Aspi-Beteiligung für acht Milliarden Euro verkaufen. Ziel ist es nun, sich auf die Bereiche Autobahnen, Flughäfen und Eisenbahnen zu konzentrieren.
Harte Zeiten für Italien
Das Jahr 2022 war für den italienischen Kapitalmarkt ein schwarzes: Neben 1931 und 1969 war es das einzige Jahr in diesem und im vergangenen Jahrhundert, in dem sowohl die Aktien- als auch die Anleiherenditen gleichzeitig negativ waren. Durchschnittlich verlor der Index der Mailänder Börse, die umgangssprachlich Piazza Affari genannt wird, im Lauf des Jahres 2022 12,7 Prozent an Wert. Damit befindet sich die Mailänder Börse aber in bester europäischer Gesellschaft – der Pariser Index verlor 9,8
Prozent, und der Frankfurter DAX wies ein Jahresminus von 12,9 Prozent aus. Aber nicht nur die Börse hat zu kämpfen, auch von offizieller Seite gibt es anhaltende Kritik an der bestehenden Geldpolitik, insbesondere in Bezug auf die Europäische Zentralbank.
Verteidigungsminister Guido Crosetto, der zur Rechtspartei von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gehört, hat die Unabhängigkeit der Notenbank von nationalen Regierungen und Behörden der Europäischen Union infrage gestellt. Dabei stößt sich Crosetto vor allem an der Beendigung der Nettokäufe von Staatsanleihen. Denn diese sei „schwieriger zu verstehen und zu rechtfertigen“. Die Reaktion der Märkte auf die Maßnahmen der EZB zeige, dass das Zentralbankinstrument zum Schutz der geldpolitischen Transmission „nicht ausreicht“. Nach Angaben der UniCredit SpA muss Italien bis 2023 fällig werdende Anleihen im Wert von rund 260 Milliarden Euro refinanzieren, zusätzlich zu einem Neuverschuldungsvolumen von rund 90 Milliarden Euro.