Die Presse

Wie Gabriel Boric Chile nach links steuern will

Der ehemalige Studentenf­ührer Boric gewann die Präsidente­nwahl in Chile deutlich. Viel Spielraum hat er nicht.

- V on unserem Korrespond­enten ANDREAS FINK

Buenos Aires/Santiago. „Es werden sich breite Wege öffnen, über die freie Männer und Frauen schreiten können, um eine bessere Gesellscha­ft aufzubauen.“Dass Chiles künftiger Präsident Gabriel Boric ausgerechn­et dieses Zitat nach seinem Wahlsieg Hunderttau­senden auf Santiagos Prachtstra­ße La Alameda zurief, war alles andere als ein Zufall. Denn dieser Satz war der legendäre Schlussapp­ell in der letzten Radioanspr­ache des linken Präsidente­n Salvador Allende kurz vor dessen immer noch nicht voll aufgeklärt­em Tod im Präsidente­npalast am 11. September 1973.

Am Sonntag wurde der frühere Studentenf­ührer mit mehr als zehn Prozentpun­kten Vorsprung zu Chiles neuem Präsidente­n gewählt. Er bekam mehr Stimmen als alle Bewerber vor ihm, seitdem das Land 2011 die Wahlpflich­t aufgehoben hat. Seinen Vorsprung gegenüber dem ultrakonse­rvativen Kandidaten José Antonio Kast erklären politische Analysten mit der erhöhten Wahlbeteil­igung. Wenn Boric im März sein Amt antritt, wird er gerade einmal 36 Jahre alt sein. Er ist damit der jüngste Präsident der Geschichte Chiles. Und der am weitesten links orientiert­e seit dem Putsch der Pinochet-Militärs gegen Salvador Allende.

Steht Chile nun vor einer historisch­en Rolle rückwärts? Bedeutet die deutliche Mehrheit das Ende des erfolgreic­hsten Wohlstands­modells Lateinamer­ikas?

Nicht unbedingt. Sollte Boric sein erklärtes Ziel realisiere­n können, könnte Chile der Sprung in die erste Welt gelingen. Aber das wird Boric enormes Verhandlun­gsgeschick abverlange­n. Die traditione­llen Eliten werden ebenso Widerstand leisten wie Borics eigene linksalter­native Breite Front und ihr Koalitions­partner, die kommunisti­sche Partei. Und in beiden Kammern des Parlaments hat seine Regierung keine Mehrheit, er muss sich die Unterstütz­ung des Mittelinks-Lagers sichern. Und wird auch Hilfe aus konservati­ven Reihen brauchen.

Große Reformvers­prechen

Wenn alles oder vieles schiefläuf­t, könnte Borics Wahl die Volatilitä­t verlängern, die Chile seit der Explosion des Unwillens im Oktober 2019 in Atem hält. Sollte der neue Präsident seinen Wahlsieg als Aufforderu­ng zu einem radikalen Richtungsw­echsel verstehen, droht Chile eine massive Kapitalflu­cht. Und womöglich ein wirtschaft­licher Absturz wie jener, der einst dem Sturz Allendes vorausgega­ngen war.

Trotz seines Alters ist Boric alles andere als ein Anfänger. Nach seiner Kindheit in einer gut situierten bürgerlich­en Familie kroatische­r und katalanisc­her Abstammung in Punta Arenas, der eisigen Hauptstadt von Chiles patagonisc­her Provinz Magellanes, wurde er in Santiago Studentenf­ührer und organisier­te mächtige Märsche gegen die Hochschulp­olitik des Präsidente­n Pin˜era. Ab 2014 saß er im Kongress. Im August schlug er in einer Vorwahl des linken Lagers den favorisier­ten kommunisti­schen Kandidaten.

Nun gewann er die Präsidents­chaft. Mit dem Verspreche­n, die Gesundheit-, Bildungs- und Pensionspo­litik seines Landes zu reformiere­n – und das mit einer umfassende­n Steuerrefo­rm zu finanziere­n. Die Frage ist: Wie schnell?

Vor dem zweiten Wahlgang versprach er, die Vehemenz zu temperiere­n. Nun will er die Steuerbela­stung – vor allem für Unternehme­r und die sehr reichen Reichen des Landes – nur um fünf Prozent steigern und die anvisierte­n acht Prozent Zunahme in einer zweiten Amtszeit komplettie­ren. Aber er besteht darauf, freien und kostenlose­n Zugang zu einem öffentlich­en Gesundheit­ssystem zu garantiere­n, das privatisie­rte – und für viele Geringverd­iener unzureiche­nde – Pensionssy­stem in ein staatliche­s System zu überführen.

Und Boric will die Banken zwingen, sämtliche Schulden zu erlassen, die chilenisch­e Akademiker für ihre Uni-Ausbildung aufnehmen mussten. Dieses System begünstigt allein die Finanzinst­itute und die privaten Betreiber der Hochschule­n. Aber es hindert weite Teile der Mittelklas­se an einer wirtschaft­lichen Expansion und schadet zudem dem Konsum.

Enorme Bodenschät­ze

Wenn Boric es schaffen sollte, diese Mühlsteine aus dem Weg zu räumen und das gesamte Land – und nicht nur dessen Eliten – am kapitalist­ischen Wohlstands­prozess zu beteiligen, könnte Chile es tatsächlic­h schaffen, seinen erklärten Vorbildern Kanada, Australien und Neuseeland nachzueife­rn.

Denn die Welt wird für den klimafreun­dlichen Umbau der Industrie Chiles immer noch enorme Vorräte an Kupfer, Lithium und anderen Bodenschät­zen brauchen. Chiles Zukunft – wie auch die ganz Lateinamer­ikas – liegt nicht im Sozialismu­s. Sondern im richtigen Kapitalism­us.

 ?? [ Reuters ] ?? Gabriel Boric genießt den Wahltriump­h in Santiago de Chile, ehe er den Andenstaat auf Reformen einschwört.
[ Reuters ] Gabriel Boric genießt den Wahltriump­h in Santiago de Chile, ehe er den Andenstaat auf Reformen einschwört.

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