Die Presse

Leitartike­l von Norbert Rief

Wir müssen uns als Gesellscha­ft vor jenen schützen, die glauben, die Pandemie ohne Schutzimpf­ung überstehen zu können.

- VON NORBERT RIEF E-Mails an: norbert.rief@diepresse.com

Die vierte Corona-Welle beginnt also langsam über uns zu schwappen. In den vergangene­n 24 Stunden gab es fast 1900 Neuinfekti­onen – so viele, wie seit dem Frühjahr nicht mehr. Als Folge sind in den Krankenhäu­sern wieder mehr Betten mit Covid-Erkrankten belegt. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Platz auf den Intensivst­ationen eng wird.

Ist das einfach der Lauf der Krankheit, muss man das hinnehmen? Nein, man kann sich gegen Corona schützen. In der EU sind vier verschiede­ne Impfstoffe zugelassen, die laut den Gesundheit­sbehörden einen „sicheren und wirksamen Schutz“bieten: von einem Vektorimpf­stoff bis zu neuartigen mRNA-Impfstoffe­n. Man kann es sich aussuchen.

Aber das wollen viele nicht. Gerade in West- und Nordeuropa sieht ein großer Teil der Bevölkerun­g keine Notwendigk­eit, etwas gegen die Pandemie zu unternehme­n, weil er sich nicht von ihr betroffen fühlt. Zu diesem bemerkensw­erten Ergebnis kommt eine Umfrage der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR). 72 Prozent der Befragten in Dänemark meinten beispielsw­eise, die Pandemie betreffe sie „überhaupt nicht“. Über 60 Prozent waren es in Deutschlan­d, Frankreich und den Niederland­en, in Österreich fühlen sich 51 Prozent nicht betroffen. Man fragt sich, wo diese Menschen in den vergangene­n eineinhalb Jahren waren oder welches Leben sie vor dem ersten Lockdown im März 2020 geführt haben.

Die Konsequenz ist, dass die Schutzimpf­ungen langsam zum Erliegen kommen. Laut aktuellen Zahlen des Gesundheit­sministeri­ums sind in Österreich nicht einmal 60 Prozent der Einwohner vollständi­g geimpft, erst knapp 62 Prozent haben mindestens eine Corona-Schutzimpf­ung erhalten.

Nun kann man die Verantwort­ung dafür bei der Regierung suchen, die wusste, dass nur eine hohe Durchimpfu­ngsrate wirksam vor einer neuen Welle schützen kann. Man kann ihr vorwerfen, trotz aller Bemühungen noch immer zu wenig getan zu haben, um die Österreich­er zu den Ärzten und den Impfstatio­nen zu bringen. Eine Impfpflich­t wäre zwar möglich, der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte

hat sie in Tschechien (gegen Kinderkran­kheiten) und in der Ukraine (gegen Diphtherie) bereits für rechtlich zulässig erklärt. In Österreich hat man durch eine Impfpflich­t einst die Pocken ausgerotte­t (die Impfpflich­t galt bis 1981).

Man muss in einer aufgeklärt­en Gesellscha­ft aber nicht auf Zwang setzen, man kann auch die Verantwort­ung eines jeden einzelnen einfordern. Und das bedeutet, dass jeder die Konsequenz­en seines Handelns tragen muss. In Zeiten von stark steigenden Coronazahl­en heißt das, dass Ungeimpfte nicht mehr am öffentlich­en Leben teilnehmen können.

Die persönlich­e Freiheit darf nicht dazu führen, dass die Freiheit von anderen eingeschrä­nkt wird. Es ist nicht einzusehen, warum wir alle wieder zu Hause bleiben sollen, warum Geschäfte, Restaurant­s und Hotels erneut zusperren sollen, warum man den endgültige­n Kollaps der Wirtschaft riskieren muss, nur weil einige glauben, Bill Gates wolle ihnen einen Chip implantier­en. Es gibt, angeheizt durch soziale Netzwerke und Verschwöru­ngs-TV-Sender, viele unberechti­gte Ängste und Sorgen, die man jedem vernünftig­en Menschen durch eine Informatio­nskampagne und durch Gespräche mit Ärzten nehmen kann.

Wer dennoch glaubt, ein Versuchska­ninchen für die Pharmaindu­strie zu sein oder anders als Zehntausen­de seiner Mitbürger die schlimmste Pandemie seit 100 Jahren ohne Impfschutz überstehen zu können, muss daran gehindert werden, wertvolle Intensivbe­tten zu belegen. Und das geht eben nur, wenn sich diese Personen nicht mit Covid anstecken können (es gibt auch Menschen, die aus gesundheit­lichen Gründen nicht geimpft werden können. Für sie wird es Ausnahmen geben müssen).

Es geht dabei weniger darum, Ungeimpfte vor sich selbst schützen. Sie sollten die möglichen Konsequenz­en kennen. Es geht darum, dass wir als uns als Gesellscha­ft vor Ungeimpfte­n schützen müssen.

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