Der alte Mann und Berlin
In Adolf Muschgs Roman „Aberleben“überwindet ein Autor seine Schreibkrise.
Peter Albisser schreibt einen Abschiedsbrief an seine Ehefrau. Er, der Schweizer Schriftsteller, 70 Jahre alt, will sein bisheriges Leben, Arbeit, Familie, Katze und Heimatland hinter sich lassen. Sein letztes Buch ist vor zehn Jahren erschienen. Erfolg war es keiner. Nun muss er einen weiteren Schock verkraften: Prostata-Krebs.
Albisser übersiedelt nach Berlin, bekanntlich die Stadt ungebändigter Jugendlichkeit und nimmermüder Kreativität. Im Handumdrehen wird eine Wohnung gefunden, und schon bald kann Albisser, verjüngt wie Goethes Faust (ein Buch, das der Autor mit sich führt!), den Berliner Frauen begegnen, als wäre er dreißig. Sowohl der verführerische Elan der jüdischen Filmregisseurin Judith („Willst dich nicht nackt machen?“) als auch die Unterwassererotik mit der japanischen Freundin Mado („Ziehst du dich aus?“) beflügeln den älteren Herrn.
Das regt auch die Arbeit am Roman an. Einzelne Passagen dürfen wir mitlesen: Der Held, Gerichtssaalreporter Sutter, leidet ebenfalls an Krebs, ist aber sonst mit prätentiösen Gefühlen ausgestattet. Etwa wenn er seine Frau betrachtet: „Die Zerbrechlichkeit ihres Halses unter dem schweren schwarzen Haar ließ seinen Atem stocken.“Das ist natürlich der O-Ton des Autors Albisser, nicht jener des Autors Muschg! Albisser überarbeitet seinen Roman „Sutters Glück“– interessant, unter diesem Titel hat Adolf Muschg 2001 ein Buch veröffentlicht. In der neuen Version soll es nun „Sutters Ende“heißen.
Zitate, Zitate, Zitate
Derartige Verschränkungen zwischen Albissers, Muschgs und Sutters Lebenswelten gibt es viele in diesem Buch. Die Akademie der Künste Berlin wird erwähnt (deren Präsident Muschg zwei Jahre war), die Vortragstätigkeit in Deutschland; auch die Schweiz mit den Topoi Röschti, Fichen-Affaire, Sils-Maria, Gottfried Keller, Kronenhalle etc. darf nicht fehlen. Der Vollständigkeit halber sei noch vermerkt, dass Muschg 1974 einen Roman mit dem Titel „Albissers Grund“veröffentlicht hat.
In den Schlusskapiteln befinden wir uns in Marokko, wo eine Aufführung der Komödie „Amphitryon“vorbereitet wird, eine avancierte Text-Collage nach Plautus, Kleist und Giraudoux, sämtliche Rollen gespielt von Frauen. Als der Finanzier des Projektes nach der Premiere stirbt, löst sich der Roman in Gesprächen über die Religion und das Ende der Menschheit auf. Und wo ist eigentlich Albisser geblieben?
Erstaunlich, was Muschg in diese 366 Seiten alles hineinquetscht, deutsche Geschichte, Probleme jüdischer Künstler-Identität, weiter geht es von der Klima-Katastrophe zu den ertrunkenen Flüchtlingen im Mittelmeer und zur Gender-Debatte. Witzig liest sich die Parodie auf die pseudophilosophische Performance des Investors und „Denkers“Nep Frats.
Garniert ist dies alles mit ungezählten literarischen Zitaten und Verweisen, Odyssee und Orestie, Hölderlin, Goethe, Schiller und Kleist, Gottfried Keller und Ernst Barlach – Muschg, der ehemalige Professor für Germanistik, kennt kein Halten. Wer sich erinnert, mit welch sperriger Diskretion Max Frisch sein Alterswerk „Der Mensch erscheint im Holozän“(1979) verfasst hat, der wird sich über Muschgs übersprudelnde Geschwätzigkeit doch ziemlich wundern.