Die Kunst und die Brennnessel
Porträt. Auch an der Wiener Kunstakademie erkundet man derzeit die Natur. Nora Severios hat es die Brennnessel angetan, deren Fasern sie spinnt und färbt.
Nora Severios spinnt und färbt an der Wiener Kunstakademie die Fasern der Brennnessel.
Nora Severios nimmt ein getrocknetes Stämmchen aus der Kiste, bricht es, zupft die äußeren Schichten weg, bis ein winziges Härchen übrig bleibt: eine Brennnesselfaser. Man kann sich vorstellen, wie viel Arbeit dahintersteckt bis zu jenen bunten Knäueln, die aussehen, als wären sie gesponnene Wolle.
Ausgangspunkt für die Arbeit der Künstlerin mit der oft ungeliebten Pflanze war die Wildheit einer Pferdemähne. Mit etwas Vergleichbarem wollte sie arbeiten, nicht aber mit den Haaren selbst. So, erzählt sie, sei sie auf die Brennnessel gekommen. Ein Gewächs, das dem Menschen folgt, sich aber nie ganz kultivieren ließ.
Damit gearbeitet hat die Studentin der Wiener Kunstakademie nicht zuletzt im Rahmen eines mehrmonatigen Workshops zum Thema „The Use of Landscape“. Denn nicht nur lockdowngeplagte Menschen, sondern auch die bildende Kunst neigt sich der Natur zu – auch wenn die Klasse für Kunst und Fotografie gemeinsam mit Kollegen aus Bukarest den Kurs statt bei gemeinsamen Landpartien via Zoom absolvieren musste. Den ewigen Zwiespalt zwischen Nähe und Distanz zur Natur sieht Severios aktuell auch im Coronavirus, das sich just über einen Wildtiermarkt verbreitet haben könnte.
Viel gelernt hat Severios von der Mühlviertlerin Christiane Seufferlein, einer Expertin für Naturfarben und das alte Handwerk des Handspinnens. Sie brachte ihr bei, wie man die Pflanzen rösten muss, um danach die Fasern auszulösen, und wie man das pflanzliche Garn spinnt. „Danach habe ich wortwörtlich ein Jahr gesponnen, weil ich nicht wusste, was ich mit den Fäden machen soll.“
In der Ausstellung der Kunstakademie, die ab Ende des Lockdowns wieder in deren Ausstellungsraum in der Eschenbachgasse zu sehen sein sollte, ist von ihr nun eine Installation zu sehen: Einmachgläser voll bunter Färbeflüssigkeit, deren Färbfähigkeit aber schon erschöpft ist. Frisch angesetzt stehen die Färbemittel in ihrem Atelier – Töpfe mit Kamillen, Ringelblumen, Schalen von Granatäpfeln. Letz
tere trägt Severios auch auf ihrem Arm als Tattoo. Vielleicht hat es ein wenig mit ihrem verstorbenen Vater zu tun, einem syrischen Kurden und Maler.
Wildheit und Domestizierung
Im ersten Lockdown ist Severios aus ihrer 30-Quadratmeter-Stadtwohnung in sein früheres Atelier in Klosterneuburg gezogen und immer noch dabei, es sich anzueignen. Aktuelles Bauprojekt ist ein Käfig für ihre Kaninchen. Apropos. Tiere, die sich kratzen, auch das ist etwas, das sie mit seinen speziellen Drehungen gerade fasziniert. Viele hat sie gezeichnet, ein Reh großformatig gestickt – und mit rosa gefärbtem Brennnesselflaum umgeben, der wie Fell aussieht. Den Raum zwischen Wildheit und Domestizierung hat sie auch anhand von Lipizzanern erkundet, deren Schweifhaare für Kapriolen bis heute geflochten und in Taschen gesteckt werden; eine Praxis, die auf den früheren Einsatz der Kriegsrösser hindeutet. Severios hat Schweifgamaschen aus Ton angefertigt, aufgestellt erinnern sie an Würmer, findet sie.
Inspiration liefern ihr auch Höhlenmalereien, bei denen schon jene Färbepflanzen verwendet wurden, die man heute kennt, oder griechische Vasenmalerei, die sie ein halbes Jahr vor Ort erlernt hat. Als Tochter eines Künstlers hat die 35-Jährige dabei lang gezögert, selbst in die Kunst zu gehen. Zu genau weiß sie, dass es in finanzieller Hinsicht „immer wieder Phasen gibt, in denen überhaupt nichts geht“. Zudem war bei ihr lang die klassische Gitarre im Vordergrund gestanden, hatte sie Vorlesungen an der Boku und an der Musikwissenschaft besucht. Bis heute arbeitet sie als ausgebildete Elementarpädagogin auch in einem Kindergarten, plant in ihren Räumen gerade ein eigenes Kinderatelier.
Für ihr Diplom, das im Juni ansteht, will sie übrigens ausnahmsweise auf Wolle umsteigen. Bekannte haben Soayschafe, eine urtümliche Rasse, die ihre Wolle von selbst abwirft. „Ich will“, verrät Severios, „ihnen nachlaufen und versuchen, die Wolle vom Schaf herunterzuspinnen.“