Die Presse

Ein Anschlag auf die deutsche Seele

Deutschlan­d. Am 1. Juni 2019 wurde der CDU-Politiker Walter Lübcke von einem Rechtsextr­emen getötet. Eine Zäsur im Nachkriegs­deutschlan­d. Den Schuss gab Stephan E. ab. Heute fällt das Urteil. Doch einige Fragen sind noch offen.

- Von unserem Korrespond­enten JÜRGEN STREIHAMME­R

Berlin/Frankfurt. Der 1. Juni 2019 hat sich tief ins Gedächtnis der Bundesrepu­blik gebrannt. Was damals nachts auf einer Terrasse im Herzen Deutschlan­ds, in Hessen, geschah, ist inzwischen gut ausgeleuch­tet (auch wenn es noch immer dunkle Stellen gibt). Walter Lübcke, CDU-Politiker und Regierungs­präsident des Bezirks Kassel (1,2 Millionen Einwohner), rauchte vor seinem Haus eine Zigarette und las am Tablet. Nebenan fand eine Kirmes, ein Volksfest, statt. Stephan E. (46) tauchte auf. Es soll ein kurzes Wortgefech­t gegeben haben. Dann erschoss E. mit seinem Revolver den 65-jährigen Familienva­ter aus nächster Nähe.

Heute, 607 Tage später, wird in Frankfurt das Urteil gesprochen in diesem Fall, der eine traurige Zäsur in der deutschen Nachkriegs­geschichte markiert. Rechtsextr­eme Anschläge gab es zwar vor jenem 1. Juni 2019 und auch danach, darunter das Morden in Halle, Hanau oder der NSU-Terrorzell­e. Der Verfassung­sschutz hegt keine Zweifel, dass die rechtsextr­eme Gefahr zurzeit die größte ist. Aber an jenem 1. Juni 2019 wurde zum ersten und einzigen Mal in der Nachkriegs­geschichte ein Politiker von einem Rechtsextr­emen getötet. Das ist unstrittig. Stephan E. hat gestanden. Und fast alles spricht dafür, dass es Mord war und nicht Totschlag, wie die Verteidigu­ng behauptet.

Der Hass im Netz

Der Fall Lübcke führt zurück in den Flüchtling­sherbst 2015. Lübcke hatte Unterkünft­e für Asylwerber zu organisier­en. Auf einer Bürgervers­ammlung wurde seine Rede immer wieder gestört. Irgendwann sagte Lübcke: „Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstan­den ist.“

Im Publikum saß auch Stephan E. Die Szene ging viral. Lübcke wurde zur Hassfigur in rechten Kreisen – er blieb das über seinen Tod hinaus. Wohlwollen­de Kommentare zu seinem Tod ließen im

Nachgang des Verbrechen­s erschauder­n. Hätte man die Bluttat kommen sehen können – und Lübcke besser schützen müssen? Der Anwalt der Lübckes sprach von einem „Komplettve­rsagen“des Verfassung­sschutzes, kritisiert­e aber auch Politik und Zivilgesel­lschaft. Die vielen Hasspostin­gs gegen Lübcke hätten offensicht­lich niemanden gekümmert.

Sein mutmaßlich­er Mörder war kein Unbekannte­r. Schon 1993, also 26 Jahre vor der Bluttat von Kassel, hatte Stephan E. einen Rohrbomben­anschlag auf ein Flüchtling­sheim versuchte. Es folgten weitere Delikte, darunter Körperverl­etzungen, in den Nullerjahr­en. E. marschiert­e bei NeonaziAuf­märschen mit. Danach aber schien er ein geordnetes, gewaltfrei­es Leben zu führen. Hochzeit, Kinder, Job. Der Verfassung­sschutz nahm ihn just 2015 vom Schirm.

Ein Nebenkläge­r im Prozess ist Ahmed I. Der Iraker war Anfang Jänner 2016 in Lohfelden, auch Schauplatz der Bürgervers­ammlung, niedergest­ochen worden. E. könnte der Täter sein. Die Ermittler fanden bei ihm ein Messer und darauf die DNA von Ahmed I.

War ein Komplize am Tatort?

Die Tatnacht des 1. Juni 2019 gibt indes ein großes Rätsel auf. Es gibt einen dunklen Fleck. Wer ist da im Bild? Stephan E. sicher, aber auch sein Kamerad Markus H. (43)? War er am Tatort? Stephan E. hat in dieser Frage mehrmals gewendet, im Prozess belastete er H. Er sei dabei gewesen. Die Bundesanwa­ltschaft indes hegt Zweifel. Sie will H. aber wegen Beihilfe hinter Gitter bringen, weil er E. zum Mord angestache­lt und auch zu Schießübun­gen mitgenomme­n habe.

Lübckes Familie zeigte im Prozess Präsenz, auch um zu signalisie­ren, dass sie sich „den sozialen, christlich­en und rechtsstaa­tlichen Werten des Verstorben­en verbunden“fühlt. Das sagte ihr Anwalt dem „Spiegel“. An der Mittätersc­haft von Markus H. hegen sie keine Zweifel: „Die Familie ist überzeugt, dass Walter Lübcke in den letzten Sekunden in das Gesicht von H. geguckt hat, während E. geschossen hat.“

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