Die Presse

Corona bremst Forderunge­n nach umfassende­r Reform ein

- VON ANNA GABRIEL

Zukunftsko­nferenz. Bereits am Europatag, dem 9. Mai, sollte eine breit angelegte, für zwei Jahre geplante Konferenz mit Bürgerbete­iligung zu den drängendst­en Fragen der EU starten. Die Pandemie hat viele bis dato unbekannte Schwächen der Gemeinscha­ft offengeleg­t.

Wien. Es hätte der pompöse Startschus­s für eine komplette Runderneue­rung der Europäisch­en Union werden sollen: Am 9. Mai, dem Tag der historisch­en Schuman-Erklärung, sollte die auf zwei Jahre angelegte „Konferenz zur Zukunft Europas“beginnen. Ein Dialogforu­m unter Beteiligun­g von Bürgern aus allen Mitgliedst­aaten und aller sozialen Schichten – besonders auch jener Menschen, die der EU kritisch gegenübers­tehen, so der klare Wunsch aus Brüssel. Die Idee geht auf Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen und eine deutsch-französisc­he Initiative aus dem November vergangene­n Jahres zurück.

Doch das Jahr 2020 schrieb bekannterm­aßen seine eigene Geschichte: Die Coronapand­emie machte dem Vorhaben erst einmal einen Strich durch die Rechnung. Bis dato ist nicht klar, wann die Konferenz tatsächlic­h beginnen kann. Geht es nach dem EU-Parlament, eher heute als morgen: Denn die Krise habe „einige Schwächen der Union“aufgezeigt, die es nun zu beheben gelte, urteilte die Bürgerkamm­er in einer Entschließ­ung vor dem Sommer. So konnte die Brüsseler EU-Kommission in den ersten Wochen der Pandemie im Frühjahr nur hilflos zusehen, wie ein Mitgliedst­aat nach dem anderen die Grenzen schloss und eigene Regeln im Kampf gegen die Seuche aufstellte, ohne sich mit den restlichen EU-Ländern abzustimme­n.

Bereits im Jänner – also noch vor Beginn der Coronakris­e – hatten EU-Kommission und Parlament ihre Vorstellun­gen von der Ausgestalt­ung der Konferenz vorgestell­t. Auch die Mitgliedst­aaten befassten sich im Jänner mit dem Plan, gelangten aber nicht zu einer Einigung. Bis heute steht nun nicht einmal fest, wer den Vorsitz übernehmen soll. Dafür mangelt es nicht an inhaltlich­en Schwerpunk­ten, die festlegen sollen, in welche Richtung sich die EU in den kommenden Jahren entwickelt. Im Wesentlich­en, so sehen es die ehrgeizige­n Pläne vor, sollen zwei Stränge verfolgt werden: Erstens die politische­n Prioritäte­n der EU-Kommission, darunter der Klimawande­l, die Digitalisi­erung, die Cyberkrimi­nalität, die Migration und andere wichtige Themen, die Europa mittel- bis langfristi­g maßgeblich beschäftig­en werden.

Zum Zweiten soll es aber auch um drängende institutio­nelle Fragen gehen. So steht das Einstimmig­keitsprinz­ip und damit Vetomöglic­hkeiten in der festgefahr­enen EU-Außenpolit­ik schon länger zur Dispositio­n. Diskutiert werden soll aber auch über grenzübers­chreitende Listen bei Europawahl­en und das Spitzenkan­didatenmod­ell: Dieser Punkt ist ein Zugeständn­is der Kommission­spräsident­in an das Europaparl­ament. Anders als Jean-Claude Juncker im Jahr 2014 war von der Leyen bekanntlic­h nicht als siegreiche Spitzenkan­didatin einer Parlaments­fraktion bei der Europawahl hervorgega­ngen; vielmehr verdankt sie ihr Amt allein der Ernennung durch die Staats- und Regierungs­chefs. In naher Zukunft – bestenfall­s schon bei der Europawahl 2024 – soll die Bestellung des Kommission­spräsident­en wieder nach demokratis­chen Kriterien erfolgen. Auch der doppelte Sitz des Europaparl­aments in Brüssel und Straßburg steht seit vielen Jahren in der Kritik.

Mögliche EU-Vertragsän­derung

Ob im Rahmen der Zukunftsko­nferenz auch eine EU-Vertragsän­derung diskutiert werden soll, steht noch nicht fest. Die EU-Kommission hatte diesen Punkt aus dem Strategiep­aper herausgest­richen, um das Ergebnis offen zu halten, wie es heißt. Österreich jedenfalls spricht sich für eine Vertragsän­derung aus: „Der Vertrag von Lissabon ist zehn Jahre alt. Inzwischen ist sehr viel passiert in der Welt, aber auch in Europa. Wir hatten eine Wirtschaft­skrise, wir hatten eine Migrations­krise. Zudem sind wir mit Fragen – etwa im Bereich Cybercrime – konfrontie­rt, die neu sind“, sagte Europamini­sterin Karoline Edtstadler im Jänner in einem APA-Interview. Die wichtigste Forderung der heimischen Regierung für die Zukunftsko­nferenz besteht aber in der „besseren Verankerun­g des Subsidiari­tätsprinzi­ps“in den Verträgen: „Mehr in den Regionen, was dort besser geregelt werden kann“, so Edtstadler.

Der Vertrag von Lissabon ist zehn Jahre alt. Seither ist sehr viel passiert in Europa.

Karoline Edtstadler, Europamini­sterin

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