Die Presse

Ankara bestätigt offiziell die katastroph­ale Corona-Lage

Türkei. Der Gesundheit­sminister räumt nach langem Mauern mehr als 28.000 Neuinfekti­onen pro Tag ein. Krankenhäu­ser teilweise überfüllt.

-

Von unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN

Istanbul/Ankara. Geahnt hatten es viele Türken schon lange, jetzt ist es offiziell: Die Corona-Pandemie wütet in ihrem Land viel schlimmer als von der Regierung bisher zugegeben. Mit 28.351 Neuinfekti­onen am Mittwoch breitet sich das Coronaviru­s in der Türkei derzeit schneller aus als in den Ländern Europas. Gesundheit­sminister Fahrettin Koca musste auch einräumen, dass in einigen Krankenhäu­sern Betten knapp werden, nachdem es lange geheißen hatte, es gebe keine Probleme.

Koca hatte Ende Juli die Zählweise für sein tägliches Corona-Tableau plötzlich umgestellt. Seitdem veröffentl­ichte er nur noch die Zahl von „Patienten“mit Krankheits­symptomen und nicht mehr die Gesamtzahl der positiv Getesteten, die auch Covid-Fälle ohne Symptome beinhaltet. Dadurch blieben die offizielle­n Zahlen in der Türkei im internatio­nalen Vergleich niedrig – zuletzt wurden rund 7000 Patienten pro Tag gemeldet, während Länder wie Deutschlan­d mit 20.000 Neuinfekti­onen am Tag kämpften.

Mit dem Blick durch die rosa Brille schaffte es die Türkei, dass ihre Urlaubsreg­ionen lange von internatio­nalen Reisewarnu­ngen ausgenomme­n blieben. Zudem lobte sich die Regierung selbst, sie habe besser auf die Pandemie reagiert als die Behörden anderer Länder. Opposition und Ärzteverbä­nde hielten der Regierung dagegen eine gefährlich­e Schönfärbe­rei vor – und sie behielten Recht.

Warum Regierung Kurs ändert

Am 28. Juli, dem letzten Tag vor Kocas umgestellt­er Zählweise, lag die Zahl der positiven CoronaTest­s bei 963. Den neuen Angaben des Ministers vom Mittwoch zufolge ist die Zahl seitdem um fast das 30-Fache gestiegen. Dass die Regierung nun den Kurs ändert, liegt zum Teil an der Jahreszeit: Die Feriensais­on ist vorbei, der potenziell­e Nutzen manipulier­ter Zahlen für den Fremdenver­kehr hat sich erledigt. Ohnehin sind Länder wie Deutschlan­d der Türkei auf die Schliche gekommen und haben ihre Reisewarnu­ngen auf die Urlaubsreg­ionen des Landes ausgedehnt. Die künstlich niedrig gehaltenen Fallzahlen hatten auch den ungewollte­n Nebeneffek­t, dass die Sterberate in der Türkei höher aussah als in anderen Ländern.

Vor allem aber wurde die Schere zwischen dem geschönten offizielle­n Lagebild und dem Alltag des Landes immer größer. Ärzte berichtete­n von überfüllte­n Kliniken, Patienten erzählten Freunden und Verwandten, wie sie von Krankenhau­s zu Krankenhau­s oder sofort nach Hause geschickt wurden. Die Türken bemerkten immer mehr Corona-Fälle im Betrieb oder im Büro, bei ihren Nachbarn, in ihrer eigenen Familie.

Die von der Opposition geführte Stadtverwa­ltung von Istanbul veröffentl­icht seit einiger Zeit die täglichen Totenzahle­n in der Stadt und offenbart damit die Manipulati­on der Regierung. So verzeichne­te das Friedhofsa­mt am 23. November 201 Todesopfer von Infektions­krankheite­n allein in Istanbul – Minister Koca gab die landesweit­e Gesamtzahl der Toten durch Covid-19 für diesen Tag mit 153 an.

Die Regierung weist die Angaben mit dem Argument zurück, zu den Infektions­krankheite­n gehöre ja nicht nur Covid-19. Allerdings spricht die Übersterbl­ichkeit in Istanbul eine deutliche Sprache. In der 16-Millionen-Metropole sterben derzeit mehr als 400 Menschen pro Tag – doppelt so viele wie in den Vorjahren zu dieser Jahreszeit. Indirekt räumte die Regierung vor kurzem die wachsende Gefahr ein, indem sie einen landesweit­en Teil-Lockdown an den Wochenende­n anordnete.

„Man hat uns betrogen“, sagte der prominente Journalist Ismail Yilmaz nach Bekanntgab­e der neuen Infektions­zahlen durch Minister Koca. Mit den neuen Zahlen „sind wir die Nummer Fünf der Welt“. Nach anderen Berechnung­en liegt die Türkei nach den USA und Indien, die wesentlich mehr Einwohner haben, sogar auf Rang Drei der Nationen mit den meisten neuen Infektione­n pro Tag.

Beschädigt­e Glaubwürdi­gkeit

Die Regierung habe die Bürger angelogen, um den Fremdenver­kehr zu retten und strenge Ausgangssp­erren zum Schaden der Wirtschaft zu vermeiden, sagte Yilmaz im Fernsehsen­der Habertürk. Das Land leidet unter einer zweistelli­gen Inflations­rate, einem starken Wertverlus­t der Lira und unter einem drastische­n Rückgang der Devisenres­erven. Yilmaz schimpfte, die Regierung scheue strenge Corona-Maßnahmen – „nicht weil das Virus weg ist, sondern weil kein Geld mehr da ist“.

Ab jetzt werde die Zahl der täglichen Neuinfekti­onen immer genannt, versprach Koca. Doch die Glaubwürdi­gkeit der Regierung ist inzwischen so beschädigt, dass sich die Frage stellt, ob die Öffentlich­keit den neuen Statistike­n glauben wird. Die Opposition verlangt einen mehrwöchig­en Lockdown, um die Pandemie unter Kontrolle zu bekommen.

Bisher verzeichne­t die Türkei offiziell knapp 13.000 Corona-Tote. Bis zum Beginn des Frühjahrs im März könnten weitere 100.000 Menschen sterben, wenn nichts geschehe, warnte der Parlaments­abgeordnet­e und Arzt Mustafa Adigüzel. Die Regierung setzt dagegen auf den Beginn von Impfungen mit dem Präparat CoronaVac des chinesisch­en Hersteller­s Sinovac im Dezember.

 ?? [ APA/AFP/Klamar ] ??
[ APA/AFP/Klamar ]

Newspapers in German

Newspapers from Austria