Freud und Mord in der Praterallee
Der forschende „zweite Darwin“, Moosbrugger, die Marschallin: Was einem im Prater so alles einfallen kann.
Sie: „Ich kann dein G’sicht gar nicht sehn.“Er, über sie herfallend: „A was – G’sicht!“(Praterszene im „Reigen“)
Man sieht nur, was man weiß. Gemäldegalerien erschließen sich, wenn man Teile der antiken Mythologie kennt. Betrachtet man die sinnenfrohe Darstellung eines biblischen Themas, ist es gut, die Geschichte von Lot und seinen Töchtern gehört zu haben. Napoleon auf dem sich aufbäumenden Pferd ist mehr als ein Reiterbild.
Bildungsreste, Erinnerungen an einmal Gelesenes oder Gehörtes, helfen zu verstehen, was man sieht. Wie vieles im Leben kann das aber auch zu einer leichten Obsession werden. Man geht durch den Alltag mit einer Art Tiefenblick, einer „doppelten Wahrnehmung“, und „sieht“viel Vergangenes hinter der Gegenwart.
Jetzt, am Beginn der Hallensaison, gehe ich durch die Praterallee zur Tennisanlage. Rosenkavalier. Die Marschallin zu ihrem Geliebten: „Ich werd’ ihm einen Lauffer schicken, Quinquin, und sagen lassen, ob ich in’
Prater fahr.“Dann: „Ich hab’ ihn fortgehen lassen und nicht einmal geküsst!“Schnitzler, Reigen, Prater. Der Soldat und das Stubenmädchen. Sie: „Ich kann dein G’sicht gar nicht sehn.“Er, über sie herfallend: „A was – G’sicht!“Musil – Prater – Moosbrugger – Mord. Im Restaurant auf dem Konstantinshügel feierten die Jünger mit Sigmund Freud ein Fest. Der Meister hatte „Totem und Tabu“fertig gestellt.
Auf meinem Weg liegt ein Verkehrskindergarten. Einst stand hier die Biologische Versuchsanstalt, ein weltweit bewundertes Forschungszentrum. Riesige Aquarien gab es in diesem Gebäude, Laboratorien, Freilandterrarien und Temperaturkammern, in denen man ein künstliches Klima herstellen konnte. Karl von Frisch, der spätere Nobelpreisträger, forschte hier. Auch Paul Kammerer, den man in den USA den „zweiten Darwin“nannte. An der Wiener Universität machte er, „der freieste Gelehrte in diesen Landen“, keine Karriere: „Aber was sollte er mit seiner Freiheit in Krähwinkel anfangen?“, fragte sich ein Zeitgenosse. Auf die Nachricht von seinem Selbstmord nannte die „Neue Freie Presse“die Dinge beim Namen:
Kammerer hätte für die Universität „nachweisen sollen, dass er rein arischer Abstammung ist. Dazu erhielt er den Besuch eines Freundes, der Universitätsprofessor ist. Dieser Nachweis war aber nicht möglich, da Dr. Kammerer mütterlicherseits jüdischer Abstammung ist.“Die Ernennung zum Professor fiel ins Wasser. Klaus Taschwer, der exzellente Wissenschaftsredakteur, hat Kammerer ein lesenswertes Buch gewidmet.
Am Sportplatz in der Rustenschacher Allee angelangt, dachte ich an die Hinweise meiner Trainerin. Auf dem Weg war mir noch eingefallen, was uns unser alter Naturgeschichtsprofessor eingebläut hatte: „Schaut euch um. Denkt nach über alles, was ihr seht!“. Ärgerte er sich über die Indolenz seiner Schüler, knurrte er: „Ihr seid wie die preußischen Grenadiere. Von denen hieß es, dass ihre Ausbildung erst dann abgeschlossen ist, wenn sie eine Stunde lang aus dem Fenster schauen können, ohne sich etwas zu denken dabei!“Mir warf er es auch einmal an den Kopf. Aus Trotz habe ich bei ihm maturiert.