Als Kim Jong-un nächtens schweres Geschütz anrollen ließ
Nordkorea. Militärparade zeigte angeblich größte Interkontinentalrakete der Welt. Aufhorchen ließ Kim mit Entschuldigung für Armut im Land.
Tokio/Seoul. Mitternacht war kaum vorüber, da begann im gleißenden Neonlicht die große Waffenschau. Nordkoreas Diktator Kim Jong-un – gegen seine Gewohnheiten im westlich-zivilen grauen Einreiher gekleidet – nahm in der Nacht zum Samstag die große Militärparade zum 75. Jahrestag seiner Einheitspartei ab. Warum das Spektakel zu so ungewöhnlicher Stunde stattfand, im nordkoreanischen Fernsehen aber zeitversetzt erst am nächsten Abend um 19.00 Uhr ausgestrahlt wurde, bleibt wohl das Geheimnis seiner Diktatur. Vielleicht wollte das Regime nicht, dass hochauflösende Bilder im Tageslicht den westlichen Experten mehr Hinweise auf die tatsächliche Schlagkraft der nordkoreanischen Armee geben würden.
Der Zweck dieser bizarren Show jedoch ist einleuchtend. Kim
Jong-un will zeigen, dass sein Atomraketenprogramm auf vollen Touren läuft und auch durch die internationalen Sanktionen oder die Corona-Pandemie nicht zu stoppen ist.
Das Militär führte neue Uniformen, Sturmgewehre und Infanteriefahrzeuge vor, aber auch bisher unbekannte Luftabwehrsysteme, einen neuen Panzer sowie schwere Raketenwerfer. Insgesamt wirkte die Parade deutlich moderner als früher und signalisiert damit Südkorea, dass Pjöngjang über Waffensysteme verfügt, die bei einem Konflikt auf der koreanischen Halbinsel das Kräfteverhältnis deutlich zugunsten Nordkoreas verschieben könnten.
Die Propagandaregie hatte sich dabei wie üblich das Beste für den Schluss aufbewahrt. Auf vier gigantischen, miteinander gekoppelten Lastkraftwagen auf sagenhaften elf Achsen rollte ein Raketenmonstrum an der Tribüne vorbei. Nach Schätzungen südkoreanischer und US-amerikanischer Experten dürfte dieses Geschoss etwa 4,5 Meter länger und im Durchmesser einen Meter dicker gewesen sein als Nordkoreas bisherige Maximalrakete Hwasong-15. Gezeigt wurde zwar vermutlich nur ein Modell, aber in echt könnte diese Megawaffe mit einer Reichweite von mehr als 12.000 Kilometern praktisch jeden Ort in den USA angreifen. Und genau das soll die Botschaft aus Pjöngjang sein.
Dabei ist es zunächst zweitrangig, wie viele Raketen bereits in großem Maßstab produziert wurden. Sicher ist, dass Kim Jong-un auch weiterhin auf die Priorität des Militärs setzt, koste es, was es wolle. Notfalls – so hatte der Diktator im vergangenen Dezember bereits verkündet – müsse die Aufrüstung zu Lasten der wirtschaftlichen Lage Vorrang haben.
Tränen auf den Wangen
Nicht nur der Zeitpunkt dieser gespenstischen Machtdemonstration auf dem nächtlichen Kim-Il-SungPlatz wirkt ungewöhnlich, denn es dürfte die erste dunkle Parade des Regimes gewesen sein. Auch die übliche Festrede von Kim Jong-un entsprach nicht dem üblichen Parteipathos. Statt die Erfolge im einzig noch verbliebenen „Paradies der Werktätigen“zu bejubeln, redete der Machthaber über die Härten, die in diesem Jahr zu bewältigen seien: Taifune, schwere Überflutungen, auch die Corona-Pandemie, die sich Nordkorea nur durch strenge Abschottung selbst gegenüber dem Partner China vom Leibe halten könne. Der zusammengebrochene Handel mit diesem großen Nachbarn habe die Versorgungslage für weite Teile der Bevölkerung weiter verschlechtert; auch – und dieses Eingeständnis ist besonderer Art – für die ansonsten privilegierten Militärkader. Mit Tränen auf den Wangen entschuldigte sich Kim für die schwierigen Lebensverhältnisse. Er schäme sich, dass er das enorme Vertrauen seines Volkes nicht angemessen habe zurückgeben können.
Emotional bat er die Soldaten, die zum Katastropheneinsatz abkommandiert wurden, um Verzeihung, dass er sie nicht angemessen entlohnen konnte. Das fanden auch viele der aufmarschierten Paradeteilnehmer zum Weinen – ob aus eigenem Erleben, aus Rührung über die neue Offenheit oder, wie die Propaganda sagt, aus Liebe zum Führer – das wurde nicht erwähnt.