Und was nun, Michael Ludwig?
Parteien mit deutlichem Plus hätten einen Wählerauftrag. Und Michael Ludwig sei ein Pragmatiker, heißt es. Wird sich bald zeigen.
Wer mit den Feinheiten und Sonderbarkeiten sowie dem grenzenlosen Wiener Selbstbewusstsein nicht ganz vertraut ist, hätte in den vergangenen Tagen einige Eindrücke gewinnen können: Erstens wählt da nicht nur Wien sein Stadtparlament und damit die Riege der Stadträte und Bürgermeister. Nein, die mächtigen Bürger der Bundeshauptstadt wählen auch gleich Bundesregierung, EU-Kommission. Ach was, den US-Präsidenten.
Zweitens scheinen die steigenden Covid-19-Fälle in der öffentlichen Wahrnehmung weder etwas mit der Stadtregierung noch den Wahlkämpfen zu tun zu haben. Im Gegenteil: Ein warmer Altweibersommer mit großzügig geöffneten Schanigärten verdrängte die vermeintliche Gesundheitskrise und deswegen notwendige Maßnahmen.
Drittens scheinen die persönlichen Befindlichkeiten der Parteiköpfe – und seien sie noch klein, also beide – wichtigste Voraussetzung für die Bildung einer Koalition zu sein. Ohne Sigmund Freud oder Erwin Ringel anrufen zu müssen: Es wäre höchst an der Zeit, Wasserkopf-GroßreichPhantomschmerzen, spätkindliche (Männer-)Egoprobleme und parteipolitische Komplexe in den Hintergrund zu stellen und sich wieder um Stadt und die reale Welt zu kümmern. Und die verdüstert sich gerade in jeder Hinsicht. Die Zahl der Covid-19-Infizierten steigt vor allem in Wien, die Auswirkungen der durch die Pandemie ausgelösten Weltwirtschaftskrise werden wir in dieser Stadt deutlicher erleben als anderswo.
Oder anders: Glaubt man dem alten Mantra der 2. Republik, dass eine Koalition aus SPÖ und ÖVP nur in äußerst schwierigen Situationen für das Land sinnvoll und notwendig ist, dann wäre der Zeitpunkt für eine solche in Wien nach der Nachkriegszeit noch nie so klar gewesen. Zumal beide Parteien mit einem klaren Plus auch einen gemeinsamen Auftrag für eine Regierungsbildung ablesen können. Das können – mit einem Plus – auch Grüne und Neos, die nach eigenen Angaben Stabilität nicht gerade als erste genetische Parteitugend mitbringen. Michael Ludwig ist nach seinem unglaublich eindrucksvollen Wahlsieg der bestimmende Mann in Wien und in der gesamten SPÖ, ohne ihn wird es dort keine wichtigen Entscheidungen mehr geben.
In Wien kann er sie nach diesem Sonntag wohl allein fällen. Angeblich hat er sowohl ein Problem mit GrünenChefin Birgit Hebein als auch ein schwieriges Verhältnis mit den vergleichsweise jungen Politikern wie Sebastian Kurz oder Gernot Blümel. Bei allem Respekt vor dem Wahlsieger: Das hat in einer solch schwierigen Situation keinen Platz. Auch wenn es altmodisch naiv klingt, es gibt eine Staats- und eine Stadtverantwortung. Das gilt auch für Blümel und Kurz, die die Ablehnung der Wiener SPÖ zwar mit der Muttermilch aufgesogen haben, aber das langsam auf- und abarbeiten könnten. Die Neos bieten sich der SPÖ an, 2020 und 2021 ergeben vielleicht nicht das ideale Mondfenster für Experimente und LehrStadträte. Wenn doch, muss ihnen Ludwig echte Kontrollkompetenzen geben.
Ludwig hat jedenfalls eine historische Chance, diese Stadt effizienter und robuster aus der Krise herauszuführen. Die Ausgaben für echte notwendige Not-, Wirtschafts- und Sozialhilfen werden weiter steigen, dagegen wird man auf der Kostenseite gegensteuern müssen. Zeitgleich wird sich die Stadt für die Zeit nach der Krise mit einem neuen ökologischen Wohn-, aber auch Tourismuskonzept ähnlich wie skandinavische Städte positionieren müssen. (Was wieder für die Grünen sprechen würde.)
Und über noch einen Schatten sollten Kurz und Blümel springen, im urbanen Bereich müsste für die ÖVP einfach mehr drinnen sein. Möglich, dass der Spitzenkandidat nicht der Schmäh führende Beisl-Politiker mit goldenem Wiener Herz war. Nicht nur bei älteren Wiener ÖVP-Wählerinnen war die Justament-Haltung zur Aufnahme von Kindern und Jugendlichen aus Flüchtlingslagern ein Abschreckungssignal. Ein bisschen Offenheit und Pragmatismus schaden nämlich nie. Nicht Ludwig, nicht Blümel. Keinem.
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