Lasst Boris Johnson diesen Sieg, es ist sowieso kein schöner
Großbritannien hat die EU bereits zu lang mit seinem Brexit aufgehalten. Es würde niemand verstehen, wenn die Innenpolitik noch einmal querschießt.
Wer beim Abschied zu lang in der Tür stehen bleibt, der verpatzt sich selbst den großen Moment. Großbritannien hat sich mit immer neuen Wendungen im Brexit-Drama um dieses Gefühl der eigenen historischen Bedeutung gebracht: den Aufbruch in eine neue – selbst gewählte – Freiheit, aber auch die Emotion der Trennung von den bisherigen Partnern. Diese Emotion ist nie einseitig negativ. Sie spiegelt im besten Fall den gegenseitigen Respekt wider, mit dem beide Seiten im weiteren Leben erneut aufeinandertreffen können. Jetzt aber wollen alle nur, dass die Briten endlich aus der Tür treten und gehen.
„Wir haben gelernt, geduldig zu sein“, sagte der EU-Brexit-Verhandler Michel Barnier nach der Einigung auf den Austrittsdeal. Ganz entspricht das nicht der Wahrheit. Die bisherigen EU-Partner waren bereits äußerst ungeduldig mit den sich ständig zierenden Briten. Letztlich war das Team um Barnier sogar bereit, den vor elf Monaten ausverhandelten Deal wider alle Ankündigungen doch noch einmal aufzuschnüren. Allerdings nur, um eine alte Variante – den Verbleib Nordirlands in der EU-Zollunion – wieder ins Spiel zu bringen. Statt dass ganz Großbritannien bis zu einem neuen Handelsvertrag mit der EU an das Außenhandelsregime der Gemeinschaft gebunden bleibt, wird dies nur für Nordirland gelten. Alle anderen Vorschläge hätten die Wiedereinführung von Grenzkontrollen zwischen beiden Teilen Irlands bedeutet und damit einen Bruch des Karfreitagsabkommens, das den Bürgerkrieg 1998 auf der grünen Insel beendet hat.
Die britische Regierung unter Boris Johnson ist einen noch weiteren Weg gegangen. Sie akzeptierte all das, was sie vor kurzer Zeit noch für abwegig gehalten hatte, was viele Tories verteufelt hatten, für das sie ihre ehemalige Vorsitzende Theresa May geteert und gefedert hatten, doch noch. Die Tory-Führung war bereit, ein Stück Einfluss auf Belfast abzugeben, um innenpolitisch zu reüssieren. Es ist kein schöner Sieg, denn statt eines temporären Verbleibs von ganz Großbritannien in der EU-Zollunion wird Nordirland mit großer Wahrscheinlichkeit für immer an Dublin und Brüssel gebunden bleiben.
Für die katholische Bevölkerung ist das eine gute Nachricht. Sie kann mit gutem Grund von einer baldigen Wiedervereinigung der Insel träumen. Für die vom Königreich abhängigen nordirischen Protestanten bringt die Einigung hingegen eine unsichere Zukunft. Zum einen verliert ihre Schutzmacht an Einfluss, zum anderen droht ihnen eine sukzessive Eingliederung in die katholische Republik samt individuellen wirtschaftlichen Folgen. Denn viele der Protestanten arbeiten bisher in der nordirischen Verwaltung.
Während diesen nordirischen Unionisten also ein Kollateralschaden droht, ist es Boris Johnson mit diesem Kompromiss gelungen, eine Brücke zwischen dem schwierigen EU-Austritt und seiner eigenen politischen Zukunft zu schlagen. Er kann behaupten, den Brexit tatsächlich geliefert zu haben, und damit in die nächsten Unterhauswahlen ziehen. Wenn ihm noch der letzte innenpolitische Spagat im Parlament gelingt, wird er sich als Sieger fühlen dürfen. Dann wird vergessen sein, dass der Weg dorthin kein ganz ehrlicher, schon gar kein geradliniger war. U ngeachtet aller dieser Begleitumstände wird sich jeder vernünftige Europäer nur wünschen, dass das britische Unterhaus diese Woche oder mit einer kleinen Verzögerung in den kommenden Wochen dem Deal zustimmt. Denn es ist Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Großbritannien hat zu lang die EU bei viel wesentlicheren Fragen paralysiert.
Dann freilich gibt es in Brüssel und den EU-Hauptstädten keine Ausrede mehr, alle Kraft in die Bewältigung von Handelskriegen, Migrationsströmen und Klimakrisen zu investieren. Die Europäische Union wird vor den Augen der Welt die Konkurrenzveranstaltung zum britischen Weg sein. Die spröden EU-Institutionen und die oft egozentrisch agierenden EU-Regierungen müssen erst wieder beweisen, dass sie gemeinsam zu mehr fähig sind als ein Land im selbst gewählten Alleingang.