Keine Flugangst
Ich habe mich wirklich bemüht, habe mir vieles angeschaut, bis hin zu den Technikzentralen. Aber der Flughafen hat insgesamt 130 Gebäude, jede Ecke davon kenne ich noch nicht.“Judith Engel leitet seit 2017 die Bauabteilung des Flughafens Wien-Schwechat, und dabei handelt es sich eigentlich um eine kleine Stadt mit 20.000 Beschäftigten. Für sie arbeiten direkt 150 Frauen und Männer, ihre Agenden reichen auch weit über das bloße Bauen hinaus.
Das umfasst etwa das Facility Management der Gebäude, von der Stromversorgung bis zur Müllabfuhr, von der Straßenerhaltung bis zu den Klimaanlagen der Büros. „Der Flughafen ist voll vermietet“, erzählt sie, „und die Nachfrage bleibt weiter enorm, das hat bisher mit dem Brexit und möglichen Verlagerungen englischer Unternehmen noch gar nichts zu tun.“
Wie wird jemand in so eine Position geholt? Er oder sie muss schon vorher erfolgreich große Projekte gemanagt haben. Judith Engel hat ein unübersehbares Referenzprojekt vorzuzeigen, das international bestehen kann. Anders als bei den deutschen Problembauten Flughafen Berlin BER oder Bahnhof Stuttgart wurde der Wiener Hauptbahnhof termingerecht und ohne große Widerstände seitens der betroffenen Bevölkerung fertiggestellt. So wurden zwei Kopfbahnhöfe – der alte Süd- und der alte Ostbahnhof – in einen Durchgangsbahnhof zusammengefasst, mit Anbindung zum regionalen Schnellbahnnetz und zur U1. Dabei grenzte die Großbaustelle, die nach dem Abriss der alten Gebäude aussah wie eine Kriegszone, an beiden Seiten unmittelbar an dicht bewohnte Viertel an.
Neben dem eigentlichen Abriss und Neubau von Gleisanlagen, Brücken und Bahnhofsgebäuden – die Bürotürme und neuen Wohnhäuser gehörten nicht zu ihrem Aufgabenbereich – ging es vor allem darum, das Projekt der Bevölkerung als nützlich vorzustellen, damit diese die vorhersehbaren und unvermeidbaren Beeinträchtigungen durch die Großbaustelle akzeptieren würde. „Als wir die ersten Veranstaltungen gemacht haben, haben wir selbst nicht vieles genau gewusst“, erzählt sie. „Aber so seltsam es
klingt: Gerade das hat uns glaubwürdig gemacht. Es hat eben nicht danach ausgesehen, als würde schon alles entschieden sein, bevor man mit den Menschen redet.“
Die Zahlen des Gesamtprojekts sind beeindruckend: Insgesamt wurden mehr als 1,5 Milliarden Euro investiert, während der unmittelbaren Bauphase wuselten mehr als 500 Arbeiter gleichzeitig umher – allein die Projektleitung Bahninfrastruktur von Engel bestand aus 100 Teammitgliedern.
Engel hatte in früheren Projekten der ÖBB schon Erfahrung mit Umweltverträglichkeitsverfahren und auch mit Bürgerbeteiligung sammeln können, freilich nicht in dieser Größenordnung. Damals war es um Tunnel- oder Bahnstreckenbauten gegangen, meist in dünn besiedelten Gegenden. Nun war man im Herzen einer Großstadt mit ihren unterschiedlichen Interessenlagen.
„Die Eröffnung war für uns eigentlich ein komischer Tag“, erinnert sich Engel an einen Oktobertag 2014. „Wir haben gewusst, dass zwar der Bahnhof und die Geschäfte in Betrieb gehen, aber dass für uns noch hinter den Kulissen gut ein Jahr lang genug zu tun ist. Meine Tochter hat gesagt: ,Mama, jetzt hast du keinen Bahnhof mehr.‘ Und sie hat recht gehabt, er war jetzt der Bahnhof der Wienerinnen und Wiener.“
Mit ihrer dritten Tochter schwanger, ging Judith Engel dann erstmals in Karenz. Sie hätte nach ihrer Rückkehr zu den ÖBB wieder mit anderen Projekten weitermachen können, aber dazu sollte es nicht kommen. Der Anruf vom Flughafen und ein unwiderstehliches Angebot waren schneller.
Ihre steile, eher ungewohnte Karriere hätte sich Engel vor Studienbeginn kaum vorstellen können. Ihr Vater war zwar ein gefürchteter, strenger Professor an der Wiener Technischen Universität, aber er riet ihr von einem Studium ab, nicht gerade mit den elegantesten Argumenten: Es sei zu lang, zu schwer, sie solle sich als Frau doch eher für den Lehrberuf interessieren.
Das tat sie aber nicht. „Ich habe mein Studium durch ein Ausschlussverfahren gefunden: was mir alles nicht gefällt.“So schienen ihr Jus und Wirtschaft viel zu langweilig und durchsetzt von jungen Frauen mit Perlenohrsteckern. „Jetzt trage ich selber welche“, lacht sie. Sprachen waren ebenfalls nicht das Ihre, im Gegensatz zu Mathematik und Naturwissenschaft. Schließlich inskribierte sie Bauingenieurwesen an der TU – und wurde von manchen Mitstudenten als Tochter des Professors misstrauisch betrachtet.
Sie schrieb eine Diplomarbeit über Betonsteine und wie man diese intelligent verlegen kann, damit darauf auch schwere Lkw rangieren können, ohne dass sie brechen. An der Uni bleiben wollte sie nicht, sie wollte hinaus in die Unternehmenswelt. Drei Sommer lang hatte sie bereits Praktika beim Bauunternehmen Porr gemacht. Dieses offerierte ihr nach Studienabschluss einen Job, „aber da war ein Kästchen anzukreuzen, da stand ,weltweit einsetzbar‘. Das wollte ich nicht. Ich wollte nicht über Nacht nach Sofia aufbrechen müssen.“
Also entschied sie sich für eine Karriere in Österreich. Es begann in einem großen Wiener Ziviltechnikbüro: „Dort kam ich, ohne viel nachzudenken, in die EisenbahnAbteilung, wo ich eigentlich nie hinwollte.“Die Projekte begannen sie jedoch zu faszinieren, etwa ein Ausbau der regionalen Pottendorfer Linie auf zwei Gleise. Sie arbeitete auch an Lkw-Mautstellen oder am Container-Terminal Inzersdorf. Nach drei Jahren suchte sie Veränderung und heuerte beim Postbus an, machte dort etwas ganz anderes, Angebotsplanung für Verhandlungen mit Bundesländern, die den jeweiligen Regionalverkehr unterstützen.
Als der Postbus mit dem Busbereich der ÖBB fusioniert wurde, suchte sie wieder etwas Neues, das war nun die HL AG, eine staatliche Gesellschaft für die Errichtung von Hochleistungsbahnstrecken. „Das hat mich sehr interessiert, da ist es um völlig neue Fragen gegangen, um Vergabewesen, EURecht, Bestbieterauswahl oder Einspruchsmöglichkeiten.“Als dann der Hauptbahnhof „als vage Idee“auftauchte, es eine erste Absichtserklärung von Bund, Stadt Wien und ÖBB gab, war sie bereit.
Zwei Masterstudien hatte sie zuvor noch gemacht, nebenbei, weil sie sich ihrer Defizite trotz allen technischen Wissens bewusst geworden war: einen für Finanzwesen und einen für Personal- und Organisationsentwicklung. „Denn eines ist klar: Wenn man kein gutes Team um sich hat, mit dem man gemeinsam Projekte umsetzt, fährt man die Sache schnell an die Wand “Und das kann