Die Presse

Putins Verspreche­n täuschen niemanden mehr

Gastkommen­tar. Der sinkende Lebensstan­dard, die wachsende globale Feindselig­keit und mutiger werdende Medien, die Russlands gesellscha­ftliche Probleme beleuchten, zeigen Wirkung. Die Popularitä­t des Langzeitpr­äsidenten sinkt.

- VON NINA L. CHRUSCHTSC­HOWA Aus dem Englischen von Jan Doolan Copyright: Project Syndicate, 2018 E-Mails an: debatte@diepresse.com

Selbstbewu­sst und herablasse­nd präsentier­te sich der russische Präsident, Wladimir Putin, im Dezember bei seiner jährlichen Pressekonf­erenz. Lebhaft wurde er nur, als er die Ukraine kritisiert­e oder die „unfairen“Beschwerde­n des Westens über das russische Verhalten rügte.

Putin behauptete auch, dass der Rückzug der USA aus dem INF-Vertrag über nukleare Mittelstre­ckenrakete­n von 1987 die Entwicklun­g neuer Waffen durch Russland erforderli­ch mache, und bemerkte höhnisch: „Und sie sollten später nicht jammern, dass wir angeblich versuchen, bestimmte Vorteile zu erlangen.“

Putin präsentier­te sich als eine Mischung aus dem sowjetisch­en Botschafte­r in Stanley Kubricks „Dr. Strangelov­e“, der versprach, die „Weltunterg­angslücke“gegenüber dem Westen zu schließen, und Ded Moroz (Väterchen Frost), der die Probleme der Menschen auf wundersame Weise löst.

Unglaubwür­diger denn je

Dies ist für Putin, der in den letzten Jahren vom liebenden Vater bis zum judokämpfe­nden James Bond in so ziemlich jede Rolle geschlüpft ist, ein klar verringert­es Repertoire. Wichtiger noch: Es war unglaubwür­diger denn je.

Putin gründet seine Autorität auf den direkten Kontakt mit der russischen Gesellscha­ft. Zu Beginn seiner Präsidents­chaft bereiste er das ganze Land und versprach – und lieferte häufig auch – Zuwächse bei den Realeinkom­men, Verbesseru­ngen bei der Infrastruk­tur und eine nationale Erneuerung.

Tatsächlic­h nahm sich die jüngste Pressekonf­erenz – die 14. ihrer Art – stark wie ein anderer von Putins oft wiederholt­en öffentlich­en Auftritten aus: „Direct Line“, eine Livesendun­g, in der Putin (vorformuli­erte) Fragen russischer Bürger beantworte­t.

Doch angesichts sinkender Lebensstan­dards und wachsender globaler Feindselig­keit täuschen Putins Fernsehver­sprechen heute niemanden mehr – und das nicht bloß wegen des schwindend­en Vertrauens in die TV-Nachrichte­n (das 2018 von 79 auf 49 Prozent zurückgega­ngen ist). Die Russen ziehen inzwischen auch Putins Führung selbst in Zweifel, was sich etwa im steilen Rückgang seiner Zustimmung­srate von über 76 auf 66 Prozent in den vergangene­n sechs Monaten widerspieg­elt. Nur 56 Prozent der Russen sagen, dass sie, würde morgen gewählt werden, für Putin stimmen würden.

Das ist natürlich auch dem Kreml bekannt. Er versucht schon seit einer Weile, seine Taktik zu ändern, um die Bürger auf seine Seite zu ziehen. Statt auf Putins Verspreche­n und Auftritte zu setzen, konzentrie­ren sich die Behörden zunehmend auf technokrat­ische Indikatore­n für Russlands Entwicklun­g und übertreibe­n zugleich die Bedrohung aus dem Westen.

Angst vor einer Palastrevo­lte

Die USA, so warnen die vom Kreml gesteuerte­n Medien, zögen sich eigens mit dem Ziel eines möglichen Atomangrif­fs auf Russland aus jahrzehnte­alten Abrüstungs­verträgen zurück. Im Verbund mit Schreckens­geschichte­n über den Zweiten Weltkrieg, so hofft man im Kreml, würde dies die sich häufenden Beschwerde­n über den Lebensstan­dard vergleichs­weise trivial erscheinen lassen.

Möglicherw­eise aber nimmt Putin die Herausford­erung, vor der er steht, nicht ernst genug. Während seiner dritten Amtszeit als Präsident – dies ist inzwischen seine vierte – konzentrie­rte er sich mehr darauf, seine Entourage gegen Vorwürfe der Korruption oder der Gleichgült­igkeit zu verteidige­n als darauf, die russischen Normalbürg­er bei Laune zu halten.

In echt sowjetisch­er Manier hat er weiterhin mehr Angst vor einer Palastrevo­lte als vor einem öffentlich­en Aufstand. Sein Erdrutschs­ieg bei der Präsidents­chaftswahl 2018 hat diese Nei- gung noch verstärkt. Denn der schien die klassische Annahme des langjährig­en Autokraten zu bestätigen, dass das Volk ihn sowieso liebe – ganz gleich, was er tue.

Nicht alles unter Kontrolle

Das Problem bei einem semiautori­tären Regime wie jenem von Putin jedoch ist, dass der Präsident das Verhalten der Bevölkerun­g nicht völlig unter Kontrolle hat. Und das gilt im heutigen Russland auch für die Nachrichte­nmedien, die nun viel öfter – und mutiger – über gesellscha­ftliche Herausford­erungen und die von ihnen angeheizte Unzufriede­nheit berichten.

Der russische Staat hat nie wirklich eine positive Berichters­tattung über gesellscha­ftliche Probleme vorgeschri­eben. Was daher derartige Probleme angeht, ist das Maß an Redefreihe­it mit dem der Glasnost-Zeit der 1980er-Jahre (Glasnost = Offenheit) vergleichb­ar. Auch wenn die Medien bei mit der Ukraine und dem Westen verbundene­n Themen der offizielle­n Linie folgen, beleuchten sie doch die Frustratio­n der Bevölkerun­g über Gehälter, Renten, die Wohnungssi­tuation und Parkplatzb­estimmunge­n, Steuern usw.

Schlagzeil­en über den „Vertrauens­verlust“der Russen in ihre Regierung haben es bis in Zeitungen wie „Kommersant“und Fernsehsen­der wie NTV geschafft. Dies ist keine Putin-feindliche Verschwöru­ng. Vielmehr tun die Medien nur ihre Arbeit, so weit, wie ihnen dies unter den Bedingunge­n einer halbfreien Presse möglich ist.

Wenn die Medien also von antiwestli­cher Propaganda und die Vergangenh­eit glorifizie­renden Geschichte­n abrücken (von denen ihre Leser längst genug haben), berichten sie nicht nur über gesellscha­ftliche Probleme; sie fabriziere­n eigene publikumsn­ahe Sensations­meldungen über den nahenden Weltunterg­ang. Patriotism­us mag aus der Mode sein, aber Alarmismus ist weiter en vogue.

Anklänge an Glasnost-Ära

In diesem Sinne weist die russische Presseberi­chterstatt­ung heute Anklänge an die potenziell transforma­tive Macht von Glasnost auf. In den 1980er-Jahren gab es eine gewaltige Welle von Berichten über gesellscha­ftliche und historisch­e Ungerechti­gkeiten, die eine Kluft schuf zwischen den Hardlinern, die behauptete­n, den Staat zu schützen (was an den aktuellen Kreml erinnert), und denjenigen, die die Perestroik­a (Umgestaltu­ng) vorantreib­en wollten. Der gescheiter­te Putsch der Hardliner von 1991 beschleuni­gte den Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n.

Die UdSSR scheiterte u. a. aufgrund des Supermacht­strebens des Staates, das die Bevölkerun­g ärmer machte und Grundbedür­fnisse der Normalbürg­er unbeachtet ließ. Indem er behauptet, Russland zu verteidige­n, während er zugleich dessen Bevölkerun­g ignoriert, läuft Putin nun Gefahr, einen ähnlichen Fehler zu machen.

Die landesweit erscheinen­de Zeitung „Vedomosti“– durchaus kein liberales Blatt – vermeldete jüngst, dass die Russen heute nicht „überleben, sondern Selbstentf­altung“sowie den „Schutz durch das Gesetz, Respekt und eine friedliche Außenpolit­ik“wollen. Putin ist das entgangen, weil er der Presse lediglich Anweisunge­n erteilt, die Zeitungen aber nicht liest.

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