Putins Versprechen täuschen niemanden mehr
Gastkommentar. Der sinkende Lebensstandard, die wachsende globale Feindseligkeit und mutiger werdende Medien, die Russlands gesellschaftliche Probleme beleuchten, zeigen Wirkung. Die Popularität des Langzeitpräsidenten sinkt.
Selbstbewusst und herablassend präsentierte sich der russische Präsident, Wladimir Putin, im Dezember bei seiner jährlichen Pressekonferenz. Lebhaft wurde er nur, als er die Ukraine kritisierte oder die „unfairen“Beschwerden des Westens über das russische Verhalten rügte.
Putin behauptete auch, dass der Rückzug der USA aus dem INF-Vertrag über nukleare Mittelstreckenraketen von 1987 die Entwicklung neuer Waffen durch Russland erforderlich mache, und bemerkte höhnisch: „Und sie sollten später nicht jammern, dass wir angeblich versuchen, bestimmte Vorteile zu erlangen.“
Putin präsentierte sich als eine Mischung aus dem sowjetischen Botschafter in Stanley Kubricks „Dr. Strangelove“, der versprach, die „Weltuntergangslücke“gegenüber dem Westen zu schließen, und Ded Moroz (Väterchen Frost), der die Probleme der Menschen auf wundersame Weise löst.
Unglaubwürdiger denn je
Dies ist für Putin, der in den letzten Jahren vom liebenden Vater bis zum judokämpfenden James Bond in so ziemlich jede Rolle geschlüpft ist, ein klar verringertes Repertoire. Wichtiger noch: Es war unglaubwürdiger denn je.
Putin gründet seine Autorität auf den direkten Kontakt mit der russischen Gesellschaft. Zu Beginn seiner Präsidentschaft bereiste er das ganze Land und versprach – und lieferte häufig auch – Zuwächse bei den Realeinkommen, Verbesserungen bei der Infrastruktur und eine nationale Erneuerung.
Tatsächlich nahm sich die jüngste Pressekonferenz – die 14. ihrer Art – stark wie ein anderer von Putins oft wiederholten öffentlichen Auftritten aus: „Direct Line“, eine Livesendung, in der Putin (vorformulierte) Fragen russischer Bürger beantwortet.
Doch angesichts sinkender Lebensstandards und wachsender globaler Feindseligkeit täuschen Putins Fernsehversprechen heute niemanden mehr – und das nicht bloß wegen des schwindenden Vertrauens in die TV-Nachrichten (das 2018 von 79 auf 49 Prozent zurückgegangen ist). Die Russen ziehen inzwischen auch Putins Führung selbst in Zweifel, was sich etwa im steilen Rückgang seiner Zustimmungsrate von über 76 auf 66 Prozent in den vergangenen sechs Monaten widerspiegelt. Nur 56 Prozent der Russen sagen, dass sie, würde morgen gewählt werden, für Putin stimmen würden.
Das ist natürlich auch dem Kreml bekannt. Er versucht schon seit einer Weile, seine Taktik zu ändern, um die Bürger auf seine Seite zu ziehen. Statt auf Putins Versprechen und Auftritte zu setzen, konzentrieren sich die Behörden zunehmend auf technokratische Indikatoren für Russlands Entwicklung und übertreiben zugleich die Bedrohung aus dem Westen.
Angst vor einer Palastrevolte
Die USA, so warnen die vom Kreml gesteuerten Medien, zögen sich eigens mit dem Ziel eines möglichen Atomangriffs auf Russland aus jahrzehntealten Abrüstungsverträgen zurück. Im Verbund mit Schreckensgeschichten über den Zweiten Weltkrieg, so hofft man im Kreml, würde dies die sich häufenden Beschwerden über den Lebensstandard vergleichsweise trivial erscheinen lassen.
Möglicherweise aber nimmt Putin die Herausforderung, vor der er steht, nicht ernst genug. Während seiner dritten Amtszeit als Präsident – dies ist inzwischen seine vierte – konzentrierte er sich mehr darauf, seine Entourage gegen Vorwürfe der Korruption oder der Gleichgültigkeit zu verteidigen als darauf, die russischen Normalbürger bei Laune zu halten.
In echt sowjetischer Manier hat er weiterhin mehr Angst vor einer Palastrevolte als vor einem öffentlichen Aufstand. Sein Erdrutschsieg bei der Präsidentschaftswahl 2018 hat diese Nei- gung noch verstärkt. Denn der schien die klassische Annahme des langjährigen Autokraten zu bestätigen, dass das Volk ihn sowieso liebe – ganz gleich, was er tue.
Nicht alles unter Kontrolle
Das Problem bei einem semiautoritären Regime wie jenem von Putin jedoch ist, dass der Präsident das Verhalten der Bevölkerung nicht völlig unter Kontrolle hat. Und das gilt im heutigen Russland auch für die Nachrichtenmedien, die nun viel öfter – und mutiger – über gesellschaftliche Herausforderungen und die von ihnen angeheizte Unzufriedenheit berichten.
Der russische Staat hat nie wirklich eine positive Berichterstattung über gesellschaftliche Probleme vorgeschrieben. Was daher derartige Probleme angeht, ist das Maß an Redefreiheit mit dem der Glasnost-Zeit der 1980er-Jahre (Glasnost = Offenheit) vergleichbar. Auch wenn die Medien bei mit der Ukraine und dem Westen verbundenen Themen der offiziellen Linie folgen, beleuchten sie doch die Frustration der Bevölkerung über Gehälter, Renten, die Wohnungssituation und Parkplatzbestimmungen, Steuern usw.
Schlagzeilen über den „Vertrauensverlust“der Russen in ihre Regierung haben es bis in Zeitungen wie „Kommersant“und Fernsehsender wie NTV geschafft. Dies ist keine Putin-feindliche Verschwörung. Vielmehr tun die Medien nur ihre Arbeit, so weit, wie ihnen dies unter den Bedingungen einer halbfreien Presse möglich ist.
Wenn die Medien also von antiwestlicher Propaganda und die Vergangenheit glorifizierenden Geschichten abrücken (von denen ihre Leser längst genug haben), berichten sie nicht nur über gesellschaftliche Probleme; sie fabrizieren eigene publikumsnahe Sensationsmeldungen über den nahenden Weltuntergang. Patriotismus mag aus der Mode sein, aber Alarmismus ist weiter en vogue.
Anklänge an Glasnost-Ära
In diesem Sinne weist die russische Presseberichterstattung heute Anklänge an die potenziell transformative Macht von Glasnost auf. In den 1980er-Jahren gab es eine gewaltige Welle von Berichten über gesellschaftliche und historische Ungerechtigkeiten, die eine Kluft schuf zwischen den Hardlinern, die behaupteten, den Staat zu schützen (was an den aktuellen Kreml erinnert), und denjenigen, die die Perestroika (Umgestaltung) vorantreiben wollten. Der gescheiterte Putsch der Hardliner von 1991 beschleunigte den Zusammenbruch der Sowjetunion.
Die UdSSR scheiterte u. a. aufgrund des Supermachtstrebens des Staates, das die Bevölkerung ärmer machte und Grundbedürfnisse der Normalbürger unbeachtet ließ. Indem er behauptet, Russland zu verteidigen, während er zugleich dessen Bevölkerung ignoriert, läuft Putin nun Gefahr, einen ähnlichen Fehler zu machen.
Die landesweit erscheinende Zeitung „Vedomosti“– durchaus kein liberales Blatt – vermeldete jüngst, dass die Russen heute nicht „überleben, sondern Selbstentfaltung“sowie den „Schutz durch das Gesetz, Respekt und eine friedliche Außenpolitik“wollen. Putin ist das entgangen, weil er der Presse lediglich Anweisungen erteilt, die Zeitungen aber nicht liest.