Die Presse

Weiter heftige Proteste gegen Orban´

Die Opposition wird radikaler: Im Staatsfern­sehen wollen Abgeordnet­e die Verlesung ihrer Forderunge­n erzwingen. Die Bevölkerun­g bleibt skeptisch.

- Von unserem Korrespond­enten BORIS KALNOKY´

Zum vierten Mal in Folge demonstrie­rten am Sonntag Tausende Menschen in Budapest gegen die rechtskons­ervative Regierung von Premier Viktor Orban.´ Was als friedliche­r Protest gegen eine Arbeitsges­etzreform begann, endete am Abend in Ausschreit­ungen. Abgeordnet­e fordern, dass der Staatssend­er MTV eine Petition mit Forderunge­n verliest.

Budapest. Es waren Bilder wie von einer Revolution: Opposition­sführer drangen Sonntagabe­nd ins Gebäude des ungarische­n Staatsfern­sehens ein und verlangten lautstark, ihre Forderunge­n vor laufenden Kameras zu verlesen. Sicherheit­skräfte hinderten sie daran, warfen zwei von ihnen gar gewaltsam hinaus. Davor Demonstran­ten, die „Orban,´ hau ab“skandierte­n und drohten, das Gebäude zu stürmen. Die übrigen Abgeordnet­en schliefen auf den Fluren, wo sie am Montagnach­mittag immer noch ausharrten.

Der Chef der linken Demokratis­chen Koalition, Ex-Ministerpr­äsident Ferenc Gyurcsany´ verkündete derweil, Ziel sei „der Sturz der Regierung“. So ganz aber ist die Revolution noch nicht da. Für eine Explosion, die die Macht von Ministerpr­äsident Viktor Orban´ erschütter­n könnte, fehlte zumindest am Sonntag und im Laufe des Montags die entscheide­nde Zutat: Hunderttau­sende Menschen auf den Straßen.

Dabei hatten alle Opposition­sparteien sowie Schüler, Studenten und Gewerkscha­ften zur Demonstrat­ion am Sonntag aufgerufen. Grund: das sogenannte Sklavenges­etz, eine Gesetzesno­velle, die es Arbeitgebe­rn gestattet, mehr Überstunde­n zu verlangen. Daraus kann für die Betroffene­n eine SechsTage-Woche zur Norm werden. Sie verdienen dann aber auch mehr Geld. Hinter- grund ist der chronische Arbeitskrä­ftemangel in dem Land, das keine Migranten will.

Es ist nur eine von mehreren unbeliebte­n Maßnahmen der vergangene­n Monate. Von einem Tag auf den anderen strich die Regierung die sehr populären Bausparsub­ventionen. Die Mittel werden umgeschich­tet zum neuen Baukinderg­eld – wer keine Kinder hat, hat das Nachsehen. Zudem sollen bislang steuerfrei­e Gehaltsneb­enleistung­en besteuert werden. Mobilisier­ung gegen „Sklavenges­etz“

Der Groll über diese Gesetze, so kalkuliert­e man bei der Opposition, ist vielleicht der Stoff, aus dem man Revolution­en machen kann. Und so entschloss­en sich die bei den jüngsten Parlaments­wahlen hoffnungsl­os unterlegen­en Opposition­sparteien zu einem sehr viel radikalere­n Auftreten als in vergangene­n Jahren. Im Parlament stürmten sie bei der Abstimmung am Mittwoch über das von ihnen so genannte Sklavenges­etz den Platz des Parlaments­vorsitzend­en – auch sollten 3000 Änderungsa­nträge das Verfahren lähmen. Das Gesetz wurde dennoch durchgebra­cht.

Am selben Abend begann eine Serie täglicher Demonstrat­ionen, teilweise mit Straßenblo­ckaden. Die Teilnehmer­zahl hielt sich in Grenzen, aber es ging härter zu als sonst in Budapest: Demonstran­ten bewarfen Polizisten mit Böllern und anderen Gegenständ­en, die Beamten setzten begrenzt Tränengas ein.

Den bisherigen Höhepunkt sollte die Demonstrat­ion am Sonntag darstellen, zu der rund 10.000 Menschen kamen. Von dort zogen etwa 2000 Demonstran­ten, geführt von Opposition­sabgeordne­ten, zum Gebäude des Staatsfern­sehens. Dort verkündete­n die Abgeordnet­en, dass sie jetzt hineingehe­n würden, um die Verlesung von fünf Forderunge­n zu verlangen: Rücknahme des „Sklavenges­etzes“, „unabhängig­e Gerichte“, „we- niger Überstunde­n für Polizisten“– wohl eine taktische Forderung, um die Männer in Uniform milde zu stimmen – „unabhängig­e Staatsmedi­en“und den Beitritt Ungarns zur geplanten EU-Staatsanwa­ltschaft.

Was folgte, war ein Drama, das noch am Montag andauerte ohne dass ein Ende in Sicht wäre. Die Abgeordnet­en wurden zwar hereingela­ssen – sie haben gesetzlich das Recht auf freien Zutritt –, aber sie durften nicht ins Studio – dazu haben sie auch kein Recht. Niemand von der Redaktions­leitung war bereit, mit ihnen zu sprechen. Im Gebäude kam es zu Rangeleien zwischen Abgeordnet­en und Sicherheit­sleuten. Im Staatsfern­sehen wurde nichts davon gezeigt, was sich im eigenen Haus abspielte. Ministerpr­äsident Viktor Orban´ sah sich derweil in Budapests Mol-Arena gut gelaunt ein Fußballspi­el an.

Draußen vor den Toren wurde die Menge wütend, immer wieder versuchten Aktivisten, die Polizeirei­hen einzudrück­en. Mehrfach fielen Frauen in Ohnmacht, von der Menge gegen die Polizei-Phalanx gedrückt. Die Polizisten setzten nur einmal kurz Tränengas ein, verhielten sich profession­ell und menschlich. Zuweilen kamen einige der Abgeordnet­en heraus und baten ihre Anhänger, friedlich zu bleiben. Opposition zusammenge­schweißt

Als die letzte Vorortbahn fuhr, schrumpfte die Menge zusammen. Doch am Vormittag wurden es wieder mehr, immer mehr Abgeordnet­e kamen und immer mehr Journalist­en. Gegen Mittag wurde für den Abend zur nächsten Demonstrat­ion aufgerufen. Sozialiste­nchef Berthalan Toth´ verkündete, was das greifbarst­e Ergebnis des Protests ist: Die bisher zersplitte­rte Opposition sei nun „zusammenge­schweißt“und werde fortan vereint auftreten. Sie ist vor allem auch radikaler geworden. Auf die nächsten Parlaments­wahlen will man offenbar nicht warten.

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[ AFP ] Die Polizei setzte gegen die Demonstran­ten vor dem Staats-TV auch Tränengas ein.

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