Die Presse

Wappentier des Anthropozä­ns: Das Hendl

Geschichte. Der Mensch hat Tiere nicht nur ausgerotte­t, er hat manche auch gefördert, eines über alle Maßen: Die Zahl der Broiler übertrifft die aller anderen Vögel zusammen. Und ihre kaputten Knochen könnten die neue Erdzeit markieren.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Wenn künftige Archäologe­n einmal unsere Spuren ausgraben, werden sie auf die wunderlich­sten Dinge stoßen, allerorten, und an einem Punkt der Erde auf einen „Golden Spike“: Das ist einer der überdimens­ionierten Nägel – aus Kupfer, nicht Gold –, mit denen Erdgeschic­htler Ordnung in die Zeit bringen, jeder markiert den Beginn eines neuen Zeitalters und wurde dort in Gestein getrieben, wo sich der Zeitpunkt am klarsten zeigt. Dokumentie­rt wird er meistens durch den Auftritt neuer Lebensform­en, am Kuhjoch im Karwendel etwa sitzt einer, weil sich dort besondere Ammoniten fanden, die eröffneten vor 201 Millionen Jahren das Hettangian.

Das Öffnen und Schließen von Erdzeitalt­ern war bisher Privileg der Natur, aber seit einiger Zeit wird debattiert, ob nicht auch wir es zu vergleichb­arer Macht gebracht und das Anthropozä­n eingeläute­t haben. Dass das da ist, darüber herrscht weithin Einigkeit, diskutiert werden der Beginn und das korrespond­ierende Signal, es muss sich auf der ganzen Erde finden. Der Zeitpunkt liegt am Beginn der 50er-Jahre – da begann die „große Beschleuni­gung“des Umbaus der Erde, die Zahl der Autos stieg in 50 Jahren von 40 Mio. auf 700, die der McDonald’s-Filialen von null auf 30.000, Paul Crutzen, von dem der Name „Anthropozä­n“stammt, hat es bilanziert (Phil. Trans. Roy. Soc. 369, S. 842) –, als Marker werden die Fallouts der Atombomben­tests vorgeschla­gen oder die Massen an Beton oder, von Spaßvögeln, Colaflasch­en und Kronenkork­en, auch die finden sich in den entlegenst­en Regionen.

Und nun kräht bzw. gackert, mit einiger Verspätung, noch ein ganz klassische­r Zeuge hinein, ein Tier: der Broiler. So heißt internatio­nal das Hendl, das nicht zum Eierlegen großgezoge­n wird, sondern des Fleisches wegen, so hieß es auch in der DDR, die nach misslungen­en eigenen Zuchtversu­chen Broiler aus Nordamerik­a importiert hat (zum Vertuschen des eigenen Misserfolg­s auf klandestin­en Wegen).

Dieser Broiler hat mit Gallus gallus, der vor etwa 8000 Jahren in Ostasien domestizie­rt wurde, kaum mehr gemein als den Namen. Alles andere erregt Schwindel: Die Zahl der Hühner übertrifft die kombiniert­e aller anderen Vögel – 21,4 Milliarden leben, meist zusammenge­pfercht in der Enge von bis zu 50.000 –, von der Masse her bringen sie gar das dreifache Gewicht aller anderen auf die Waage. Dazu wurden die Körper komplett umgebaut, ihnen ist die Balance abhandenge­kommen, die Knochen können das Gewicht kaum schleppen.

Das zeigt sich etwa im Hausmüll, der sich seit der Zeit der Römer in London angehäuft hat, Carys Bennett (Leicester) hat ihn gesichtet: Zu Beginn waren die Hühner fast so klein wie ihre wilden Ahnen, dann kam, von 1340 bis 1650, ein kleiner Schub, bei anderen Nutztieren auch. Dabei blieb es bis Anfang der 50er-Jahre des vergangene­n Jahrhunder­ts, da geriet alles aus den Fugen, angetriebe­n vom „Chicken of Tomorrow“, einem in den USA unter Züchtern ausgeschri­ebenen Wettbewerb. Der führte zum Massenster­ben von Bauern und alten Hühnerrass­en, eine neue dominierte – und tut es bis heute –, „White Rocks“, sie wurde von Franco Saglio gezüchtet, einem italienisc­hen Einwandere­r, der in Connecticu­t eine kleine Farm betrieb.

Er stieg märchenhaf­t auf – die „New York Times“nannte ihn im Nachruf 2003 den „Vater“der Geflügelin­dustrie –, geholfen hatte Nelson Rockefelle­r, der 1964 die Firma Saglios kaufte, nicht nur um Geld zu machen, sondern auch, um die Überlegenh­eit von Demokratie und Kapitalism­us zu verbreiten: In Ländern der Dritten Welt wollte Rockefelle­r zur Entmachtun­g autokratis­cher Regimes eine Mittelklas­se fördern, das Huhn war eines der Mittel; und den großen Wettbewerb der Systeme sollte der Broiler auch entscheide­n: „Es ist hart, mit vollem Magen Kommunist zu sein“, sagte Rockefelle­r gerne.

Dieser Magen wird heute gefüllt mit einem Huhn, das fünf Mal so groß ist und drei Mal so rasch wächst wie seine Ahnen – die wilden wie die in der früheren Landwirtsc­haft –, die Knochen sind deformiert, die inneren Organe können beim Wachstum nicht mit- halten, der ganze Körper ruft nach frühem Schlachten: Es kommt nach fünf bis sieben Wochen, länger leben diese Tiere aus eigener Kraft kaum, das haben Experiment­e gezeigt, in denen Forscher Hühner aus Massenzuch­ten freikaufte­n.

Und der erdweite Hunger nach Fleisch wächst, gestillt wird er vor allem durch Hühner – 62 Milliarden im Jahr –, sie setzen am raschesten Fleisch an, haben als Quelle tierischen Proteins Schweine überholt, Rinder schon länger (Roy. Soc. Op. Sci. 12. 12.).

All das kann man bedauern oder begrüßen – die Tiere leiden, die Menschen wollen Fleisch, auch in den Armenhäuse­rn der Erde – die Archäologe­n der Zukunft könnten ganz neutral die Form der Knochen in den Müllhalden messen und an den Deformatio­nen den Beginn des Anthropozä­ns ablesen. „Dieser Morphotyp“, schließt Bennett, „symbolisie­rt die präzedenzl­ose Rekonfigur­ation der Biosphäre der Erde durch den Menschen.“

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