Wappentier des Anthropozäns: Das Hendl
Geschichte. Der Mensch hat Tiere nicht nur ausgerottet, er hat manche auch gefördert, eines über alle Maßen: Die Zahl der Broiler übertrifft die aller anderen Vögel zusammen. Und ihre kaputten Knochen könnten die neue Erdzeit markieren.
Wenn künftige Archäologen einmal unsere Spuren ausgraben, werden sie auf die wunderlichsten Dinge stoßen, allerorten, und an einem Punkt der Erde auf einen „Golden Spike“: Das ist einer der überdimensionierten Nägel – aus Kupfer, nicht Gold –, mit denen Erdgeschichtler Ordnung in die Zeit bringen, jeder markiert den Beginn eines neuen Zeitalters und wurde dort in Gestein getrieben, wo sich der Zeitpunkt am klarsten zeigt. Dokumentiert wird er meistens durch den Auftritt neuer Lebensformen, am Kuhjoch im Karwendel etwa sitzt einer, weil sich dort besondere Ammoniten fanden, die eröffneten vor 201 Millionen Jahren das Hettangian.
Das Öffnen und Schließen von Erdzeitaltern war bisher Privileg der Natur, aber seit einiger Zeit wird debattiert, ob nicht auch wir es zu vergleichbarer Macht gebracht und das Anthropozän eingeläutet haben. Dass das da ist, darüber herrscht weithin Einigkeit, diskutiert werden der Beginn und das korrespondierende Signal, es muss sich auf der ganzen Erde finden. Der Zeitpunkt liegt am Beginn der 50er-Jahre – da begann die „große Beschleunigung“des Umbaus der Erde, die Zahl der Autos stieg in 50 Jahren von 40 Mio. auf 700, die der McDonald’s-Filialen von null auf 30.000, Paul Crutzen, von dem der Name „Anthropozän“stammt, hat es bilanziert (Phil. Trans. Roy. Soc. 369, S. 842) –, als Marker werden die Fallouts der Atombombentests vorgeschlagen oder die Massen an Beton oder, von Spaßvögeln, Colaflaschen und Kronenkorken, auch die finden sich in den entlegensten Regionen.
Und nun kräht bzw. gackert, mit einiger Verspätung, noch ein ganz klassischer Zeuge hinein, ein Tier: der Broiler. So heißt international das Hendl, das nicht zum Eierlegen großgezogen wird, sondern des Fleisches wegen, so hieß es auch in der DDR, die nach misslungenen eigenen Zuchtversuchen Broiler aus Nordamerika importiert hat (zum Vertuschen des eigenen Misserfolgs auf klandestinen Wegen).
Dieser Broiler hat mit Gallus gallus, der vor etwa 8000 Jahren in Ostasien domestiziert wurde, kaum mehr gemein als den Namen. Alles andere erregt Schwindel: Die Zahl der Hühner übertrifft die kombinierte aller anderen Vögel – 21,4 Milliarden leben, meist zusammengepfercht in der Enge von bis zu 50.000 –, von der Masse her bringen sie gar das dreifache Gewicht aller anderen auf die Waage. Dazu wurden die Körper komplett umgebaut, ihnen ist die Balance abhandengekommen, die Knochen können das Gewicht kaum schleppen.
Das zeigt sich etwa im Hausmüll, der sich seit der Zeit der Römer in London angehäuft hat, Carys Bennett (Leicester) hat ihn gesichtet: Zu Beginn waren die Hühner fast so klein wie ihre wilden Ahnen, dann kam, von 1340 bis 1650, ein kleiner Schub, bei anderen Nutztieren auch. Dabei blieb es bis Anfang der 50er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts, da geriet alles aus den Fugen, angetrieben vom „Chicken of Tomorrow“, einem in den USA unter Züchtern ausgeschriebenen Wettbewerb. Der führte zum Massensterben von Bauern und alten Hühnerrassen, eine neue dominierte – und tut es bis heute –, „White Rocks“, sie wurde von Franco Saglio gezüchtet, einem italienischen Einwanderer, der in Connecticut eine kleine Farm betrieb.
Er stieg märchenhaft auf – die „New York Times“nannte ihn im Nachruf 2003 den „Vater“der Geflügelindustrie –, geholfen hatte Nelson Rockefeller, der 1964 die Firma Saglios kaufte, nicht nur um Geld zu machen, sondern auch, um die Überlegenheit von Demokratie und Kapitalismus zu verbreiten: In Ländern der Dritten Welt wollte Rockefeller zur Entmachtung autokratischer Regimes eine Mittelklasse fördern, das Huhn war eines der Mittel; und den großen Wettbewerb der Systeme sollte der Broiler auch entscheiden: „Es ist hart, mit vollem Magen Kommunist zu sein“, sagte Rockefeller gerne.
Dieser Magen wird heute gefüllt mit einem Huhn, das fünf Mal so groß ist und drei Mal so rasch wächst wie seine Ahnen – die wilden wie die in der früheren Landwirtschaft –, die Knochen sind deformiert, die inneren Organe können beim Wachstum nicht mit- halten, der ganze Körper ruft nach frühem Schlachten: Es kommt nach fünf bis sieben Wochen, länger leben diese Tiere aus eigener Kraft kaum, das haben Experimente gezeigt, in denen Forscher Hühner aus Massenzuchten freikauften.
Und der erdweite Hunger nach Fleisch wächst, gestillt wird er vor allem durch Hühner – 62 Milliarden im Jahr –, sie setzen am raschesten Fleisch an, haben als Quelle tierischen Proteins Schweine überholt, Rinder schon länger (Roy. Soc. Op. Sci. 12. 12.).
All das kann man bedauern oder begrüßen – die Tiere leiden, die Menschen wollen Fleisch, auch in den Armenhäusern der Erde – die Archäologen der Zukunft könnten ganz neutral die Form der Knochen in den Müllhalden messen und an den Deformationen den Beginn des Anthropozäns ablesen. „Dieser Morphotyp“, schließt Bennett, „symbolisiert die präzedenzlose Rekonfiguration der Biosphäre der Erde durch den Menschen.“