Die entweichende Zukunft
rarisch-musikalische Beziehung inspiriert den Schriftsteller dazu, über Musik, etwa in der Erzählung „Der Sänger“, in einzigartiger Weise zu schreiben.
Turgenjews Erfahrung einer lebenslangen Herzensverbindung zu einer Frau, die er nicht besitzen kann, formt die Gestalten seiner Dichtung. Der Held aus der Erzählung „Erste Liebe“ist ein Alter Ego des Autors, er erlebt die Qualität von Glück der ersten und einzigen Liebe, die unerfüllt geblieben ist, in der dichterischen Reflexion, einer Liebe, die ihn zum Dichter gemacht hat. Turgenjew sei ein „Dichter der Selbstachtung des Menschen in einer entzauberten Welt“, so der deutsche Literaturwissenschafter Horst-Jürgen Gerigk, eben darin liegt seine Modernität. Anders als Tolstoi und Dostojewski, die den Menschen mit ihrem der Religion verpflichteten Tugendkatalog verändern wollen, schafft der Agnostiker Turgenjew eine philosophische Distanz zu allen misslingenden Versuchen, das Leben zu bewältigen. Der Vergänglichkeit des Lebens wird die Wahrheit des Augenblicks entgegengehalten und in der Dichtung verewigt.
„Modern“ist Turgenjew allerdings nicht im Sinn der linken Literaturkritik im Russland seiner Zeit, denn er erkennt die sozialen und psychologischen Determinanten des Lebens nicht vorbehaltlos an. Zwar hat sich das Programm seiner Prosa „der Physiognomie des Lebens und deren wahrhafter Wiedergabe“verschrieben. Dazu gehören aber die Vernunft ebenso wie der Aberglaube und auch jene Gesetze des Lebens, die sich jeder vernünftigen Erklärung entziehen. So heißt es in der Erzählung „Ein König Lear der Steppe“: „Alles in der Welt, das Gute wie das Schlimme, wird dem Menschen nicht nach seinem Verdienst zuteil, sondern nach gewissen, noch unbekannten, logischen Gesetzen, die ich jedoch auch nur anzudeuten nicht übernehme, obgleich es mir zuweilen erscheint, dass ich sie dunkel fühle“.
Diese einer unbekannten Logik gehorchenden Gesetze, für die ein Künstler ein Sensorium besitzt, haben universelle und überzeitliche Gültigkeit, sie sind Bestandteil der Conditio humana Turgenjew heute wie die sein Werk in seiner Zeit zweifellos besaß, beiseite zu lassen und zu ihrem universellen Kern vorzudringen. Die Lektüre Turgenjews, so formuliert es Gerigk, erfordere „ganz spezifische Antennen, die in unserer Innenwelt aufgestellt sind und nicht in der Außenwelt“, Antennen für eine lyrisch inspirierte Prosa, die ein poetisches Universum erschafft, das darauf ausgerichtet ist, innerseelische Vorgänge darzustellen.
QSo ist Turgenjew der feine Beobachter, der nach Joseph Conrad in seinen Gestalten menschliche Wesen zeigt, „fähig zu leben, zu leiden, zu kämpfen, zu gewinnen, zu verlieren im endlosen und inspirierenden Spiel, das Tag für Tag die entweichende Zukunft verfolgt“. Turgenjew hat nicht nur das Genre der „Gedichte in Prosa“kultiviert, sondern auch in seinen Erzählungen einen lyrischen Ton gefunden, um die Atmosphäre der russischen Landschaft von Föhren- und Birkenwäldern mit den Geschichten und Geschicken ihrer Bewohner wiederzugeben, die als Bild von Russland weit größere Resonanz gefunden haben als die russische Malerei.
„Für nicht russische Leser ist Turgenjews Russland nur eine Leinwand,“so Joseph Conrad, „auf die der unvergleichliche Künstler der Humanität seine Farben und Formen aufträgt im großartigen Licht und der frischen Luft der Welt. Hätte er all seine Personen nur erfunden und auch jeden Stock und Stein, und jeden Bach und Hügel und jedes Feld, worin sie sich bewegen, sie wären genauso wahr und beeindruckend in ihren erstaunlichen Lebensumständen. Sie gehören ganz ihm und sind gleichzeitig universell. Jeder kann sie akzeptieren, ohne Wenn und Aber wie die Italiener eines Shakespeare.“
Väter und Söhne Roman. Aus dem Russischen von GannaMaria Braungardt. 336 S., geb., € 26,80 (Deutscher Taschenbuch Verlag, München)
Iwan Turgenjew und Pauline Viardot