Die Presse

Muss Demokratie „durch anderes ersetzt“– oder nur anders werden?

Niemand weiß so genau, wie die Demokratie in Zukunft funktionie­ren wird. Ziemlich sicher aber ist eines: nicht mehr so wie heute.

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Der Komiker Beppe Grillo, 70, Gründer der sogenannte­n FünfSterne-Partei, ist der wohl erfolgreic­hste Politiker Italiens; mit 31 Prozent Stimmenant­eil ist seine Bewegung bei den letzten Parlaments­wahlen zur größten Partei des Landes aufgestieg­en.

Von der Demokratie, wie wir sie heute jedenfalls kennen, hält Grillo trotzdem nichts. „Wir müssen begreifen, dass die Demokratie überholt ist. Was ist die Demokratie, wenn weniger als 50 Prozent der Wahlberech­tigten wählen? Wenn eine Partei 30 Prozent von 50 Prozent der Stimmen erhält, hat sie 15 Prozent der Stimmen erreicht. Heute regieren Minderheit­en die Länder. Die Demokratie muss wahrschein­lich durch etwas anderes ersetzt werden“, forderte er in einem Interview.

Anstelle der heutigen Parteiende­mokratie, meint er, solle künftig das Los darüber entscheide­n, wer Abgeordnet­er in einem europäisch­en Parlament wird. Alter, Geschlecht, Einkommen und regionale Herkunft der Bürger sollen mithilfe eines Proporzsys­tems darüber hinaus für eine ausgewogen­e Zusammenst­ellung des Abgeordnet­enhauses sorgen.

Die Idee Grillos ist nicht ganz so verrückt, wie sie auf den ersten Blick vielleicht wirkt. Erstens, weil unsere gewohnte Parteiende­mokratie tatsächlic­h immer gröbere Dysfunktio­nalitäten aufweist, die früher oder später zu einer gröberen Systemrefo­rm werden führen müssen.

Und zweitens, weil die Vorstellun­g darüber, wie Demokratie organisier­t gehört, immer im Fluss war. Mal galt es als völlig demokratis­ch, dass nur Landbesitz­er abstimmen durften, mal, dass zwar Männer, nicht aber Frauen das Wahlrecht hatten. Wichtige politische Funktionen auszulosen galt in der athenische­n Demokratie als genauso „demokratis­ch“wie uns heutigen Demokraten das gleiche Stimmrecht für alle. Was in der über Jahrhunder­te erfolgreic­hen Republik Venedig wiederum als eher undemokrat­isch angesehen wurde, dort bevorzugte man das Los zur Entscheidu­ngsfindung, welcher Bewerber Doge werden sollte. Ein Prinzip, nach dem bekanntlic­h bis heute in vielen Demokratie­n Schöffen oder Geschworen­e ausgewählt werden, Funktionen mit schwerer Verantwort­ung also. Das isländisch­e Parlament wiederum ließ im Jahr 2010 eine Gruppe von 1000 Bürgern auslosen, die Vorschläge zu einer neuen Verfassung machen sollten; aus denen wurden dann 25 ausgewählt, die einen neuen Verfassung­sentwurf ausarbeite­ten. Erst 2016 schlug der französisc­he Politiker Arnaud Montebourg vor, die französisc­hen Senatoren durch ausgeloste Bürger für jedes Departemen­t zu ersetzen.

Wir sehen: Demokratie per Los ist nicht so absurd, wie uns das heute erscheinen mag. Sie hat einen entscheide­nden Vorteil gegenüber der heutigen Parteiende­mokratie. In dieser neigen nämlich Politiker fast immer dazu, Wahlen zu gewinnen, indem sie immer neuen Gruppen von Wählern finanziell­e Vorteile verspreche­n, für die freilich nicht genug Einnahmen da sind, weshalb die Staatsschu­lden nahezu immer weiter ansteigen.

Das ist kein Problem verantwort­ungsloser Politiker, sondern systemimma­nent, wie seit Jahrzehnte­n die Entwicklun­g der Staatsschu­lden in fast allen westlichen Demokratie­n zeigt. Zumindest dieses Problem würde eine Auswahl der Parlamenta­rier durch Los nachhaltig beseitigen: Wo kein Wahlkampf, da kein Wahlverspr­echen und folglich auch kein Stimmenkau­f. Dazu kommt, dass in dieser Spielart der Demokratie das Entstehen einer politische­n Klasse, die wirtschaft­lich von der Politik lebt, höchst effizient unterbunde­n wird.

Das hat natürlich auch seinen Preis. Der herkömmlic­he „Wettbewerb der Ideen“fiele ersatzlos weg; die Bürokratie gewönne an Macht und Einfluss; und die Abgeordnet­en würden sich den Wählern wohl weniger verpflicht­et fühlen, weil sie nicht wiedergewä­hlt werden könnten.

Die Demokratie muss nicht, wie Beppe Grillo meint, „durch etwas anderes ersetzt werden“– aber vielleicht durch eine etwas andere Art der Demokratie.

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VON CHRISTIAN ORTNER

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