Die Presse

Ein Totenkopf namens Eric

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Eine Frau verließ gegen Mitternach­t das Haus. Ihr Auto wurde gefunden, von der Frau keine Spur. Gerüchte machten die Runde: War sie mit einem Liebhaber durchgebra­nnt, von ihrem untreuen Ehemann ermordet worden oder hatte gar Selbstmord verübt? Die Situation erschien rätselhaft.

Die Suche nach der Vermissten begann neun Tage später, am 12. Dezember 1926. Das Farnkraut wurde mit Traktoren durchkämmt, Suchtrupps unter Polizeifüh­rung durchforst­eten das Unterholz – ein Szenario wie aus einem ihrer Bücher.

Eine Schriftste­llerkolleg­in schaltete sich ebenfalls ein. Sie war drei Jahre jünger als die Verschwund­ene und fast ebenso bekannt, ihr populärer Romanheld war ein Lord. Ihr scharfer Verstand half der Oxford-Absolventi­n aber ebenso wenig wie Hellseher, die helfen wollten, Hinweise auf den Verbleib der Verscholle­nen geben konnten. Unversehrt tauchte die Abgängige bald wieder auf, doch was in den „zehn gespenstis­chen Tagen“tatsächlic­h geschah, wurde nie geklärt.

Jahre später trafen die beiden Frauen erneut aufeinande­r. Mit Kollegen gestaltete­n sie eine Radioserie für die BBC; die Jüngere musste aus einzelnen Geschichte­n ein zusammenhä­ngendes Ganzes erschaffen. Heraus kam eine verstrickt­e Handlung mit unzähligen Opfern, Verdächtig­en, Tatwaffen. Die BBC protestier­te und forderte eine nachvollzi­ehbare Geschichte.

In den darauffolg­enden Jahrzehnte­n waren beide Frauen Mitglieder in einem Klub, den die Jüngere mitbegründ­et hatte. Die Ältere hielt zwar nicht viel von dieser Art von Gesellscha­ft, wurde aber später dennoch deren Präsidenti­n. Regelmäßig gab es „Dinner Meetings“, bei denen sich die Mitglieder über ihre Ansprüche beim Schreiben austauscht­en.

Aufnahmebe­dingungen waren die persönlich­e Empfehlung durch zwei Mitglieder und die allgemeine Akzeptanz. Für das Initiation­sritus musste ein von innen beleuchtet­er Totenschäd­el namens „Eric“auf einem schwarzen Polster in einen Raum getragen werden. Die Mitglieder folgten mit brennenden Kerzen und Insignien ihrer „mörderisch­en“Kunst: Dolchen und Giftphiole­n. Die Klubregeln wurden verlesen, und alle gelobten feierlich, sie einzuhalte­n.

Wer traf wen? Wie hieß der Klub? Die Romanheldi­n der älteren Autorin? Der Lord aus dem Werk der jüngeren?

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