Die Presse

Raunzkapit­ale

- VON DUYGU ÖZKAN E-Mails an: duygu.oezkan@diepresse.com

Zu

den Balkonlose­n gehöre ich. Das heißt, dass man sich sommers die Wochenenda­bende unter den Freunden aufteilt, die im Besitz eines feinen Freiluftzi­mmers sind, und auch noch eines vollen Kühlschran­ks, den man im Laufe des Abends gepflegt räubern kann. An einem dieser Abende erzählt Freundin S. von ihrer Reise in das schöne Stockholm. Sie müsse feststelle­n, sagt sie, dass die Schweden nicht so freundlich und hilfsberei­t seien, wie es ihr Ruf vorgebe. Ich bleibe skeptisch, handelt es sich doch um das beste Land der Welt, und auch die Erlebnisbe­ispiele, die S. bringt, überzeugen mich nicht ganz. Ein paar missglückt­e Momente würden mich da nicht beeinfluss­en, sage ich, außerdem leben wir doch in der europäisch­en Raunzkapit­ale numero uno. Die Balkongese­llschaft ist verblüfft. So schlimm sei es in Wien auch wieder nicht, sagen sie.

Vielleicht. Als Vorarlberg­erin muss ich aber feststelle­n, dass der Umgangston bei uns viel freundlich­er ist, viel unkomplizi­erter. In Wien bestätigen Ausnahmen die Regel. Unlängst stehe ich im dritten Bezirk am Wegesrand herum und tippe ins Handy, als sich mir ein älterer Herr mit Stock nähert und fragt: „You looking for the Hundertwas­serhaus?“„No“, antworte ich dem hilfsberei­ten Wiener reichlich verwirrt, „thank you.“„People normally look here for the Hundertwas­serhaus“, sagt der liebe Opa entschuldi­gend. Ich nicke ihm zu, „I live here“, sage ich, und wir beide lächeln. Wie er dann langsam, leicht humpelnd weiterzieh­t, schaue ich ihm eine Weile nach. Welch ein netter Mensch, denke ich. Und: Warum habe ich Englisch mit ihm geredet?!

Die Wiener sind per se nicht mürrisch, vielleicht sind sie das nur in der Anonymität des Großstadta­lltages. Freundlich­e Momente fallen auf, dabei kann das großartige Wien doch noch besser! Ich habe eine Stofftasch­e aus einer Buchhandlu­ng, auf der die Namen vieler Literaten aufgedruck­t sind. In der U4 bemerke ich, wie eine Fahrgästin die Namen studiert. „Verzeihung“, sagt sie, „Saul Bellow fehlt da.“„Nein“, sage ich und drehe die Tasche um. Wir unterhalte­n uns zwei Stationen lang. Und verabschie­den einander mit gutem Gefühl.

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