Raunzkapitale
Zu
den Balkonlosen gehöre ich. Das heißt, dass man sich sommers die Wochenendabende unter den Freunden aufteilt, die im Besitz eines feinen Freiluftzimmers sind, und auch noch eines vollen Kühlschranks, den man im Laufe des Abends gepflegt räubern kann. An einem dieser Abende erzählt Freundin S. von ihrer Reise in das schöne Stockholm. Sie müsse feststellen, sagt sie, dass die Schweden nicht so freundlich und hilfsbereit seien, wie es ihr Ruf vorgebe. Ich bleibe skeptisch, handelt es sich doch um das beste Land der Welt, und auch die Erlebnisbeispiele, die S. bringt, überzeugen mich nicht ganz. Ein paar missglückte Momente würden mich da nicht beeinflussen, sage ich, außerdem leben wir doch in der europäischen Raunzkapitale numero uno. Die Balkongesellschaft ist verblüfft. So schlimm sei es in Wien auch wieder nicht, sagen sie.
Vielleicht. Als Vorarlbergerin muss ich aber feststellen, dass der Umgangston bei uns viel freundlicher ist, viel unkomplizierter. In Wien bestätigen Ausnahmen die Regel. Unlängst stehe ich im dritten Bezirk am Wegesrand herum und tippe ins Handy, als sich mir ein älterer Herr mit Stock nähert und fragt: „You looking for the Hundertwasserhaus?“„No“, antworte ich dem hilfsbereiten Wiener reichlich verwirrt, „thank you.“„People normally look here for the Hundertwasserhaus“, sagt der liebe Opa entschuldigend. Ich nicke ihm zu, „I live here“, sage ich, und wir beide lächeln. Wie er dann langsam, leicht humpelnd weiterzieht, schaue ich ihm eine Weile nach. Welch ein netter Mensch, denke ich. Und: Warum habe ich Englisch mit ihm geredet?!
Die Wiener sind per se nicht mürrisch, vielleicht sind sie das nur in der Anonymität des Großstadtalltages. Freundliche Momente fallen auf, dabei kann das großartige Wien doch noch besser! Ich habe eine Stofftasche aus einer Buchhandlung, auf der die Namen vieler Literaten aufgedruckt sind. In der U4 bemerke ich, wie eine Fahrgästin die Namen studiert. „Verzeihung“, sagt sie, „Saul Bellow fehlt da.“„Nein“, sage ich und drehe die Tasche um. Wir unterhalten uns zwei Stationen lang. Und verabschieden einander mit gutem Gefühl.